„Sinnliche Brücken schlagen“: Über den Themenschwerpunkt Literarische Übersetzung vs. Theaterübertitelung beim Festival Theater der Welt

VON HANNES BECKER

Der Apparat

Das Theater als Maschine: So mag es all denjenigen erscheinen, die von außen hineingucken und hinter verschmierten Scheiben und vermauerten Türen wieder nichts erkennen konnten, und die darum halt doch lieber wieder im Saal auf ihren Plätzen Platz nehmen, wo das Theater die Mechanik, mit welcher es seine Effekte erzielt, versteckt hält, oder aber stolz vorzeigt, wie etwa letztes Jahr, nach dem ersten Lockdown, in der Wiedereröffnungspremiere am Schauspiel Bochum. Und auch von der Theaterkritik und im Kulturjournalismus wird das Bild der Theater-Maschine häufig bemüht, um die Abläufe am Theater und die Besonderheit der Theaterarbeit zu beschreiben, zum Beispiel, wenn von der neoliberalen Premierenfabrik oder dem feudalen Machtapparat die Rede ist. Doch wer erklärt ihn uns, diesen seltsamen Apparat, zusammengesetzt offenbar – als wäre es ganz normal so – aus Fleisch, Blut und Stoffen anderer Art, aus unangemessenen Blicken und Livekameras, den dreißig Mitarbeitenden des Abenddienstes und den zweihundert Leuchtelementen der Lichtregie, der gewaltigen Drehbühne und den winzigen Schräubchen im 15 Jahre alten Macbook? Angefertigt aus Wutausbrüchen und ferngesteuerten Zangen, zwanghaften Beleidigungen, geformter klassischer Sprache und natürlich lautstärkenverstellbaren Mikroports? Und wen, ja, wen sollen Sie anrufen, wem mal eben auf die schwere Schulter tippen, wem eine Facebookanfrage schicken, Sie, all die Einsteiger*innen in die Theaterberufe, die wissen wollen, ob Sie sollen, was Sie wollen, am Theater arbeiten, und Sie, die Politiker, die – aufgefordert von den Theatermitarbeiter*innen – wissen wollen, worüber Sie da eigentlich die ganze Zeit entscheiden, wenn Sie im Bundestag eine „Kulturmilliarde“ vergeben oder aber im Stadtrat die „freiwilligen Leistungen“ aka das Kulturbudget kürzen?

Die Übersetzer*innen

Fragt die Theaterübersetzer*innen!, rufen die Theaterübersetzer*innen. Denn die sind es, die als literarische Übersetzer*innen von Theaterstücken ohnehin schon für das Theater arbeiten, die aber doch auch direkt im Theater arbeiten – zum Beispiel als Übertitler*innen der Aufführungen. Und fragt man sie mal und antworten sie dann (nicht, weil sie es selbst verlangt hätten, nein, sondern weil sie von ihren Kolleg*innen darum gebeten worden sind), so wird sich zeigen, dass die Übersetzer*innen viel zu erzählen haben, was speziell über ihre ganz besondere, nur scheinbar im Verborgenen stattfindende Arbeit Auskunft gibt und was doch auch aussagekräftig ist für den Gesamtzusammenhang Theater, sein „Funktionieren“ zwischen Arbeit und Kunst, Betrieb und Passion, Spielplan und Berufung. Die Fragen, die sich den Übersetzer*innen dabei stellen, betreffen nicht nur den Theaterbetrieb: Es sind Fragen der Mitbestimmung, Sichtbarkeit, Mehrsprachigkeit und Diversität sowie der Einbindung freiberuflicher Mitarbeiter*innen in feste und freie Produktionszusammenhänge.

Und so hat der Verein Drama Panorama Theaterübersetzer*innen aus vielen Sprachen eingeladen, an der Veranstaltungsreihe panorama #1: übertheaterübersetzen teilzunehmen. Im Rahmen des Festivals Theater der Welt und in Zusammenarbeit mit dem Studiengang Literaturübersetzen an der Heinrich-Heine-Universität in Düsseldorf fanden am 21. und 22. Juni 2021 zwei Podiumsdiskussionen und eine Werkstatt zum Thema Literarische Übersetzung vs. Übertitel statt. Hervorgegangen sind die Veranstaltungen aus einer Kooperation zwischen dem Verein, dem Festival und der Universität, auf ursprüngliche Initiative der Romanistin und Übersetzungswissenschaftlerin Vera Elisabeth Gerling von der Heinrich-Heine-Universität.  Vera Elisabeth Gerling führte jeweils in die Veranstaltungen ein und moderierte die Publikumsgespräche. Weiterhin hielt Franziska Muche von Drama Panorama im Sommersemester an der Düsseldorfer Universität ein Seminar zum Thema Theaterübersetzen.

Die von Franziska Muche im Rahmen des Festivals geleitete Werkstatt Dramenübersetzung und Theaterübertitelung in der Praxis richtete sich dann an Übersetzer*innen, andere Theatermacher*innen, Studierende, Berufseinsteiger*innen, die dank des Online-Formats sogar aus Korea zugeschaltet werden konnten. Im von Hedda Kage konzipierten und moderierten Podium Im Spannungsfeld zwischen Politik und Theater – Guillermo Calderón und seine Übersetzungen diskutierten der aus Chile live zugeschaltete Guillermo Calderón, Autor/Regisseur der zu Theater der Welt eingeladenen Inszenierung Dragón, mit Hedda Kage, seiner Entdeckerin für den deutschsprachigen Raum, und mit Almut Wagner, der seit Jahren durch Übersetzungen und Stückaufträge mit ihm verbundenen Chefdramaturgin und stellvertretenden Intendantin des Münchner Residenztheaters. Die drei sprachen darüber, wie Theater durch Übertitelung der Inszenierungen und Übersetzung und Publikation der Texte über die Grenzen einer bestimmten Sprache hinaus in andere kulturelle Kontexte hineinwirken kann (hier nachzuhören – mehr zu diesem Podium außerdem im November hier auf dem Blog, anlässlich der Thementage Neue spanischsprachige Dramatik und dem Erscheinen der Anthologie Mauern fliegen in die Luft. Theatertexte aus Argentinien, Chile, Kolumbien, Kuba, Mexiko, Spanien und Uruguay). An dem von Yvonne Griesel konzipierten Podium Dramenübersetzung und Übertitel – ein Spannungsfeld nahmen Christopher-Fares Köhler, Uli Menke, Franziska Muche und Karen Witthuhn teil, so dass mit der Gastgeberin fünf Übersetzer*innen aus dem Arabischen, Französischen, Spanischen, Englischen und Russischen zu erleben waren, alle erfahrene Übertitler*innen von Gastspielen und zugleich literarische Übersetzer*innen von Theaterstücken, Romanen und Drehbüchern (hier nachzusehen und zu -hören). Gastgeberin und Gäste dieses Podiums berichteten von spezifischen Problemen beim Übertiteln von Theateraufführungen (Rhythmus, Timing, Lesbarkeit), diskutierten das Thema aber auch als Dramaturg*innen und Schauspieler*innen, als Kurator*innen im Festivalbetrieb, aus wissenschaftlicher Perspektive sowie als Inhaber*innen eigener Firmen wie Sprachspiel (für Übertitelung) und Transfiction (für das ganze Spektrum literarischen und nichtliterarischen Übersetzens). Hinzu kam aus dem Festivalprogramm ein Gastvortrag von Anna Kasten von der auf Übertitelungstechnologie spezialisierten Firma Panthea sowie ein Livestream von Guillermo Calderóns aktueller Produktion Dragón, die von Franziska Muche übertitelt wurde, welche auch die literarische Übersetzung des Stücktextes angefertigt hatte.

In zwei intensiven Festivaltagen entstand so ein umfassendes Bild vom Tätigkeitsfeld des Theaterübersetzens zwischen hochspezialisierter Einzeldienstleistung und kollaborativer künstlerischer Praxis. Dabei zeigte insbesondere das Beispiel der Theaterübertitelung, wie sehr Übersetzer*innen direkt in die Abläufe am Theater involviert sind. Theaterübersetzer*innen arbeiten auf Festivals, im Stadttheater und in freien Gruppen mit Kolleg*innen aus allen Theaterberufen und Gewerken. Als Übertitler*innen vermitteln sie zwischen den Performer*innen und ihrem Publikum, stellen den Zuschauer*innen notwendige Informationen bereit, können mit ihren Übertiteln aber auch immer wieder – mit einer Formulierung des Regisseurs Roberto Ciulli – „sinnliche Brücken schlagen“[1], und die jeweiligen Produktionen künstlerisch mitbestimmen.

Mensch-Mensch-Maschine-Interaktion

Erst einmal sieht es aber so aus, als würde das Bild von der Maschine stimmen, mit der Übertitlerin als „Rädchen im großen Getriebe Theater“, die hier – wie Yvonne Griesel den gängigen Eindruck beschreibt, „ganz tief drin“, aber auch „ganz weit unten“ – ihre Übertitel „fährt“, wie es genannt wird, das heißt, mithilfe einer Spezialsoftware oder auch einfach PowerPoint die vorbereiteten Übertitel live auf den dafür im Bühnenbild vorgesehenen Ort einspielt.

© Voxi Bärenklau

Doch hier erschöpft sich die Maschinen-Metapher auch schon wieder. Denn in der Praxis des Übertitelns kommt schnell die ganze Realität des Theatermachens in den Blick, wo es vor allem sehr viele Menschen sind, die Unvorhersehbares tun (egal, was vorher besprochen wurde) und die sehr Verschiedenes wollen (egal, worauf man sich geeinigt zu haben geglaubt hat), und wo viel Technik im Einsatz ist, die auch nicht immer funktioniert. Da muss dann schon mal ein Übertitler bei einem Freiluftevent einen Computer mit einem Haartrocker trockenfönen, wie Uli Menke berichtet, und Yvonne Griesel erinnert sich an Vorstellungen am Gefrierpunkt in der Gebläsehalle Duisburg, wo sie, gehüllt in Felle, ihre Übertitel aus dem Inneren eines Schlafsacks heraus fahren musste. Das überhaupt Menschen gebraucht werden, um Übertitel zu erstellen und dann live zu fahren, und nicht längst Google Translate, DeepL und eine „selbstfahrende“ Übertitelungs-KI diese Aufgabe übernommen haben, zeigt: Theatermachen ist ein Zusammenspiel zwischen allen möglichen Akteur*innen, zu denen die Menschen gehören, aber die technischen Geräte irgendwie auch, eine komplexe Mensch-Mensch-Maschine-Interaktion, in der niemand ohne die anderen auskommt.

© Göran Gnaudschun

In diesem komplizierten Zusammenspiel befinden sich die Übertitler*innen genau am Übergang von Video, Licht und Ton, zwischen den technischen und den künstlerischen Mitarbeiter*innen einer Produktion, mit Dramaturgie, Regie und Regieassistenz als Hauptansprechpartnerinnen, und Schauspieler*in, Inspizient*in, Bühnenbildner*in, Autor*in, Bühnenmeister*in, Musiker*in u. v. m. als weiteren Beteiligten. Alle diese Personen, ihre spezifischen Beiträge und Positionen müssen beim Übertiteln mitbedacht werden, damit eine Aufführung einem Publikum zugänglich gemacht werden kann – alle Aspekte einer Aufführung und nicht nur ihre gesprochenen Anteile. Yvonne Griesel nennt in einem Impulsvortrag beim Workshop Dramenübersetzung und Theaterübertitelung in der Praxis das Übertiteln einen „Bestandteil im intermedialen Ganzen“ einer Produktion. In diesem Ganzen wird die ohnehin für den Übersetzungsberuf typische Vermittlungsarbeit als besonders notwendige, aber auch besonders heikle Aufgabe kenntlich. Das zeigt sich schon am Problem, wie sichtbar Übertitel in einer Aufführung werden dürfen: Die Regisseurin will, dass sie nicht zu stark zu sehen sind, die Bühnenbildnerin will sie nicht in ihrem Bühnenbild haben, der Dramaturg will, dass aber doch genug vom Text zu sehen ist, die literarische Übersetzerin des für die Übertitel verwendeten Theaterstücks ist unzufrieden, weil sie ihren Text in den verkürzten Übertiteln nicht mehr wiedererkennt. Und das Publikum, ebenfalls eine sehr heterogene Ansammlung von Personen, die mit sehr verschiedenen Voraussetzungen auf das Bühnengeschehen blickt, muss laufend mit „vertrauensbildenden Maßnahmen“ gewonnen werden: in den ersten fünf Minuten den literarischen Stil des Textes anklingen lassen, das Hörerlebnis unterstreichen und doch die Aufmerksamkeit nicht zu lange festhalten und den Blick wieder freigeben auf das gerade erst beginnende Geschehen auf der Bühne. Ein Tippfehler, riesengroß zu sehen; ein zu starker Unterschied zwischen dem, was zu hören und dem, was zu lesen ist, und das Vertrauen ist verspielt, Unruhe, Aufruhr, Widerstand entstehen und reißen alles in einen Abgrund aus Unwillen und Misstrauen! Hinzu kommen jene, die doch etwas von der übertitelten Sprache verstehen oder die eine leidenschaftliche Beziehung zur Dramenübersetzung pflegen und auf einmal „ihren“ Shakespeare nicht mehr wiedererkennen oder andere Wörter lesen, als sie gehört haben. Oder ein Teil des Publikums beginnt zu lachen, noch bevor der Schauspieler eine Pointe gebracht hat: Sie stand schon im Übertitel.

Postproduktion

Solche Geschichten haben mehr als nur anekdotischen Wert. Sie künden von der Spannung zwischen dem Unfertigen und Fertigen der Theaterarbeit oder noch stärker zeitlich gesprochen: zwischen Produktion und Postproduktion. Uli Menke, Übersetzer aus dem Französischen und „Übertitler der ersten Stunde“, der seit Ende der 1990er Jahre Produktionen der Schaubühne Berlin übertitelt, beschreibt den typischen Prozess des Übertitelns als einen der Postproduktion: Eine Inszenierung ist „fertig“ und soll anderswo auf einem internationalen Festival vor Zuschauer*innen gezeigt werden. Der*die Übertitler*in wird beauftragt, Übertitel zu erstellen, und erhält zu diesem Zweck die Videoaufzeichnung der Inszenierung und die Übersetzung des Stücktextes – wobei der*die Übersetzer*in häufig eine andere Person ist als der*die Übertitler*in. In wieder anderen Fällen fehlt eine „literarische“ Übersetzung, und stattdessen arbeitet ein*e Übersetzer*in mit einem an Ablauf und Wortlaut der Inszenierung orientierten Aufführungsskript oder erhält Übertitel in einer anderen Sprache zu Bearbeitung. Letzteres ist häufig der Fall bei der Übertitelung von Produktionen international aktiver Gruppen, die für ihre Bewerbungen auf Festivals Videomaterial mit englischen Untertiteln erstellen müssen: Oft werden solche Untertitel dann, wenn die Produktion eingeladen wird, von den Gruppen selbst zu Übertiteln verarbeitet.

Auf der Grundlage dieses sehr heterogenen Ausgangsmaterials wird zunächst eine sogenannte Matrix erstellt, ein am Rhythmus der tatsächlichen Abläufe einer Aufführung orientierte Aufteilung der darin vorkommenden Texte – die dann innerhalb dieser Aufteilung übersetzt werden. Die Aufteilung folgt dem Kriterium der schnellen Lesbarkeit: Dem Publikum soll es möglich sein, gleichzeitig das komplette Bühnengeschehen zu verfolgen, die Übertitel zu lesen und dann noch die Verbindung zwischen beiden herzustellen. Im Ergebnis besteht die Matrix einer Übertitelung zum Beispiel aus den 922 einzelnen Folien einer Power-Point-Präsentation, wie im Fall der Übertitel für die Produktion Dragón von Guillermo Calderón. In diese Matrix werden dann die einzelnen Übertitel eingetragen, in der Regel in der Form von Zweizeilern à 37 Zeichen, die jeweils 3-5 Sekunden zu sehen sein werden, wie bei Untertiteln im Film. In Wirklichkeit aber variiert die Länge der Übertitel einer Theateraufführung stark – je nach Sprechtempo – oder auch Singtempo: Denn in der Oper, wo wegen der häufig fremdsprachigen Texte Übertitel schon lange gezeigt werden, dauert der Vortrag einer Textzeile meist wesentlich länger als im sogenannten Sprechtheater. So können die Übertitel mehr Text enthalten und länger gezeigt werden. Im Sprechtheater, erklärt Karen Witthuhn, geben Inszenierungen mit großem Bewegungsanteil oder Monologe den Übertitler*innen mehr Zeit. Schwieriger wird es bei den typischen Saalschlachten mit durcheinandersprechendem Ensemble, etwa bei einer der unzähligen Aufführungen von Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf? und Yasmina Rezas Gott des Gemetzels oder den auch international viel gezeigten Stehstücken des Autors und Regisseurs Simon Stone. Um bei solchen Aufführungen mit hohem Sprechanteil das Publikum mitzunehmen, müssen Übertitel etwa auf eine einzelne Sprecherin fokussieren oder können lediglich kurze Synopsen wiedergeben.

Um zu überprüfen, ob die Übertitel funktionieren, und um letzte Anpassungen vorzunehmen, gibt es idealerweise vor der jeweiligen Aufführung eine Probe zum Fahren der Übertitel. Unidealerweise muss zusätzlich noch eine Übergabe an eine Person erfolgen, die statt der Übertitlerin die Übertitel fährt. Noch schlimmer wird es, wenn die Übertitel für eine Inszenierung erstellt werden, deren Text erst am Premierentag fertig ist. Das ist zum Beispiel häufig der Fall an Häusern wie den Münchner Kammerspielen oder dem Gorki Theater in Berlin, die viele der Inszenierungen ihres Repertoires übertiteln, zugleich aber offenen Theaterformen zuneigen und gern mit Variation und Improvisation arbeiten. Was gut ist für die Kunst, wird dann schnell zum Albtraum für die Übertitlerin. Dann „bleibt uns nichts anderes übrig als Ordnung herstellen und die Nacht durchmachen“, formulierte es die Workshopteilnehmerin Eva Hevicke, Gründerin des Mehrsprachentheaters Theatro in Köln.

Postdramatischer Ausgangstext

Dabei bedeutete das Übertiteln historisch eine Öffnung gegenüber dem literarischen Übersetzen von Theaterstücken. Entwickelt wurde die technische Möglichkeit der Übertitelung seit den 1980er Jahren in Finnland und Kanada für einen sich internationalisierenden Spielbetrieb und eine mehrsprachige Zuschauer*innenschaft.

© Yvonne Griesel

Das Übertiteln ist außerdem Merkmal einer veränderten postdramatischen Aufführungspraxis: von einem Theater, in dem das Theaterstück auch das Skript zur Aufführung bildet, insofern diese das Stück „umzusetzen“ hat, hin zu einer Situation, in welcher sich alle Aspekte einer Aufführung, Regie, Bühnenbild, Schauspiel, Musik, zu dem für die Übertitelung maßgeblichen „Ausgangstext“, wie Yvonne Griesel es nennt, „addieren“ . Diesen performativen Text, der, extrem wandelbar, von Abend zu Abend variieren kann, gilt es in der Übertitelung mit größtmöglicher Offenheit und Genauigkeit nachzuvollziehen. „Letztlich muss ich schauen, wie ich möglichst gut mit der Inszenierung mitatme“, sagt Franziska Muche, und Yvonne Griesel berichtet von Aufführungen, bei denen sie auf der Bühne mittanzen musste und so als Dolmetscherin ganz körperlich mit den Performer*innen mitgegangen ist. Sprechblasen, untertitelte Videos, Regieanweisungen, denen widersprochen wird: All das muss kein schlimmes Unheil sein, sondern kann, zur Freude aller, allen gute Dienste tun, und wird – von Licht- und Videodesigner*innen wie Voxi Bärenklau und Regisseur*innen wie Rodrigo García und Yael Ronen – auch längst gemacht.

Beteiligung und Zusammenarbeit

Damit die Übertitler*innen zur Offenheit und Variabilität einer jeweiligen Theateraufführung beitragen können und nicht zu denjenigen werden, die immer nur über anstrengende Einfälle der Künstler*innen schimpfen, müssen sie früh am Probenprozess beteiligt werden. Beispielhaft dafür muss etwa 2018 die viersprachige Uraufführung von Wajdi Mouawads Stück Tous Des Oiseaux (dt. Vögel) gewesen sein: Hier war Uli Menke als Übertitler und Übersetzer direkt in die Proben und in den (mit den Proben mitlaufenden) Schreibprozess involviert und hat mit dem Autor/Regisseur genauso zusammengearbeitet wie mit einzelnen Spieler*innen. Christopher-Fares Köhler berichtet von den mehrsprachigen Inszenierungen mit dem Exil Ensemble am Gorki Theater Berlin, Karen Witthuhn bringt ihre Erfahrungen aus dem Management des Festivals Theaterformen in Braunschweig ein. Das Podium ist sich einig: Je früher Übertitler*innen in eine Produktion miteinbezogen werden, desto flexibler können sie reagieren – desto mehr Vertrauen wird auch das Publikum in die Übertitel gewinnen – und damit in die Inszenierung. Von der Beteiligung der Übersetzer*innen profitieren so letztlich alle Beteiligten einer Produktion. Die Vermittlungsleistung der Theaterübersetzer*innen verbessert, übertragen auf die Situation einer Probe, die Arbeitsbedingungen am Theater, sowohl an den festen Häusern als auch im Ablauf von internationalen Festivals sowie auf den regionalen und überregionalen Touren der freien Gruppen. Die Fähigkeit, sich in eine andere Perspektive hineinzuversetzen, von der viele Aufführungen erzählen, zeigt sich schon im Arbeitsprozess als Fähigkeit, die Notwendigkeiten der Kolleg*innen mitzudenken und in der Bereitschaft zum Rollenwechsel. Übersetzer*innen entwickeln gemeinsam mit den Dramatiker*innen und Schauspieler*innen Texte, als Übertitler*innen antizipieren sie die Intention der Spieler*innen genauso wie die Aufnahme des Spiels durch das Publikum. Zusammen mit der Dramaturgie definieren Übertitler*innen die zeitliche Ordnung und den Rhythmus einer Inszenierung, Seite an Seite mit den Bühnenbilder*innen formen sie den Bühnenraum, und im Moment des Fahrens der Übertitel nehmen Übersetzer*innen selbst am Live-Geschehen einer Aufführung teil.

Die Beteiligung sollte beginnen, bevor die Proben losgehen. In der Budgetierung und Antragsstellung für eine Produktion müssten Geld und Zeit für die Übertitelung mit eingeplant werden. Das werde immer wieder vergessen, egal um welche Form von Theater es sich handelt, berichtet Christopher-Fares Köhler von seiner Erfahrung als Dramaturg an Stadttheatern und in der Freien Szene. So würden immer mehr Stadttheater, um ihr Publikum zu erweitern, eine Übertitelung wünschen. Da die Verantwortlichen aber mit den zu einer Übertitelung benötigten Arbeitsschritten nicht vertraut seien, würden aufgrund schwerfälliger Planung an solchen Häusern selbst dafür vorhandene Mittel oft nicht bereitgestellt. Oder freie Gruppen beantragen Förderung für ambitionierte mehrsprachige Aufführungen, vergessen aber, auch die Übertitelung mitzubeantragen. Dadurch sei nicht nur der Erfolg des Antrags gefährdet, sondern die geförderten Produktionen selbst verfehlen häufig auch wegen unzureichender Übertitel ihre Wirkung beim internationalen Festival-Publikum.

Transparenz herstellen

Die Diskutierenden auf dem Podium Dramenübersetzung und Übertitel – ein Spannungsfeld sind sich also einig, dass das Übertiteln nicht länger als nachgeordnetes, rein technisches Geschehen irgendwo zwischen Beleuchtung und Ton verstanden, sondern als Teil des Gesamtprozesses einer Theaterproduktion gesehen werden sollte. Uneins sind sie sich jedoch darüber, wie transparent der Vorgang des Übertitelns in den jeweiligen Aufführungen zu machen sei. Geht es bei dem Wunsch, die Übertitel „runter“ zu den Spieler*innen und „rein“ in den Bühnenraum zu bringen, nicht darum, sich dem Ausdruck der Spieler*innen „anzuschmiegen“, wie Yvonne Griesel meint? Sollten nicht die Übertitel näher an die Körper der Spieler gebracht werden, um so, wie Uli Menke meint, die Intention besser zu vermitteln, mit der diese den Text auf die Bühne bringen? Oder aber sollte durch Übertitel der geschriebene Text, die Schriftform selbst zur Mitspielerin werden, die gleichberechtigt neben der gesprochenen und gesungenen Sprache, der Bildsprache und dem körperlichen Ausdruck in Erscheinung tritt? Werden wir also bald eigenständig auftretende Buchstaben auf der Bühne sehen, die nicht länger nur das Handeln und Reden der Schauspieler*innen bezeichnen? Werden bald die Übertitler*innen ähnlich beliebte Figuren sein wie die Souffleur*innen, die, zum Entzücken des Publikums, auf offener Bühne von den anderen Spieler*innen angesprochen werden können, und sogar auf der Bühne selbst sichtbar werden, als transhumane Wesen, die statt mit dem Textbuch gemeinsam mit Computern, Beamern und materialisierten Software-Interfaces in das Geschehen treten? Für ein solches Transparentmachen des „translatorischen Handelns“ der Übertitler*innen spricht die erwähnte postdramatische, intermediale Theaterpraxis: Die postdramatische Bühne ist eine, auf der das „Flüstern“ aus dem Souffleurkasten genauso hörbar werden kann wie das „Fahren“ der Übertitel sichtbar.

Diversität zeigen und erzeugen

Der ästhetisch reizvolle Vorgang des Übertitelns verdient aber auch als politischer Vorgang Beachtung. Die Präsenz der Übertitel in einer Inszenierung bezeugt, ja betont die Mehrsprachigkeit und Diversität der Gesellschaft, in der und für die Theater gemacht wird. Durch die mit dem Übertiteln einhergehende Theatralisierung des Übersetzungsvorgangs werden die ästhetische Vielfalt einer Inszenierung und die sprachliche Diversität der Gesellschaft sichtbar aufeinander bezogen. Aus diesem Grund spricht sich Dramaturg und Übertitler Christopher-Fares Köhler dafür aus, dass in Aufführungen die Bedingungen und Eigenarten des Übertitelns mitinszeniert werden: Wo übertitelt wird, werde das Deutsche nicht länger als Nonplusultra vorausgesetzt, und durch das Offenlegen des Übersetzungsvorgangs werde nachvollziehbar erfahrbar, wie zwischen verschiedenen Sprachen, kulturellen und ästhetischen Codes hin- und hergewechselt werden kann.

Noch scheint die Erfahrung der linguistischen und kulturellen Mehrsprachigkeit im Theater etwas Aufregendes und Neues, wohingegen sie für immer mehr Menschen in der Gesellschaft schon seit langem Alltag ist. In diesem Sinn kann die Sichtbarkeit der Übertitel mit der Forderung nach mehr gesellschaftlicher Sichtbarkeit von Personen und Perspektiven verbunden werden, die im Theater bisher eher unsichtbar gewesen sind. Das gilt auch für die Forderung nach mehr Barrierefreiheit, etwa wenn Übersetzer*innen Untertitel für hörbehinderte und gehörlose Menschen bereitstellen. Dabei geht es, wie im Gespräch zwischen den Übertitler*innen auch klar wurde, beim Übersetzen für Theater und beim Übertiteln von Theater nicht um die Anpassung an irgendeine Art von Normalität. Weder Eindeutigkeit der Aussage noch Eindeutigkeit der Wirkung ist das Ziel. Künstlerische, professionelle und biographische Heterogenität wird durch Übersetzung und Übertitelung nicht aufgelöst, sondern betont. So kann der Übersetzungsvorgang als eine Annäherung aus der Autonomie heraus inszeniert werden.

Verantwortung teilen

Wird so die ganze Angelegenheit Theater aus der Perspektive der Übertitler*innen betrachtet, erscheint es nicht länger nur als wahlweise gutgeölter Apparat, Unterdrückungswerkzeug oder vorindustrielle Antiquität auf dem Schrotthaufen der Geschichte der darstellenden Künste (Orchestergraben! Schnürboden! Theaternebel!). Sondern all das wird sichtbar als Aspekte einer Praxis, für welche die guten Bilder und produktiven Begriffe vielleicht erst noch gefunden werden müssen. Eine Praxis, in der Menschen mit Menschen und Menschen mit Maschinen und Tieren und Pflanzen zusammenarbeiten – um nur einige zu nennen. Eine Praxis, durch die Theater laufend anders neu entsteht, als aus Vielem und Verschiedenem zusammengesetzte Kunstform in einer vielsprachigen, differenzierten Gesellschaft, wo feste und etablierte mit freien und flüchtigen Formen der Produktion koexistieren. Ein Potenzial zu Gemeinschaft und Autonomie, für das alle Verantwortung tragen, die daran beteiligt sind, das aber nicht einfach so für alles und alle gleich (und jederzeit endlos) verfügbar ist – nicht mehr und noch lange nicht. Sondern ein Potenzial, das Gegenstand machtvoller Verhandlungen, Auseinandersetzungen, Absprachen, Aneignungen, Enteignungen, Inanspruchnahmen, Übernahmen ist. Ob das gut ist, ob das so sein muss? Auch eine Frage, die gestellt werden muss, wieder und wieder, die wir auch erst verstehen müssen, und die wir euch gerne übersetzen, in die gemeinsame Sprache oder eine andere. Und dafür ist uns jedes Mittel recht!

Angesichts der großen Verantwortung, die gerade Übersetzer*innen für den Erfolg der künstlerischen Arbeit und das soziale Miteinander am Theater tragen, muss das Bild von der Übertitler*in als kleinem Rädchen im Getriebe relativiert werden. Eine der wichtigsten Erkenntnisse aus dem Themenschwerpunkt Literarische Übersetzung vs. Theaterübertitelung lautet: Übersetzer*innen sollten sich der Macht bewusst werden, die sie haben – ungeachtet der prekären Bedingungen, unter denen sie ihre Arbeit tun. Macht, darüber zu entscheiden, was verstanden wird und was nicht. Macht, hinzuzufügen und fortzulassen. Macht, auszuwählen und zu verändern. Aus diesen und anderen Gründen sollte die Beteiligung der Übersetzer*innen an den betrieblichen Strukturen der Theaterhäuser, Gruppen, Festivals nicht nur eine künstlerische Notwendigkeit sein, sondern muss auch als kulturpolitische Forderung erhoben werden. Ob als freie oder feste Gäste oder ständige Ensemblemitglieder, ob als Übertitler*innen der Aufführungen oder Übersetzer*innen dramatischer Literatur: Wenn es darum geht, das Theater als Kunstform, Arbeitsweise und Institution zu erneuern, sind Übersetzer*innen unverzichtbar. Als Expert*innen und Entscheider*innen gehören sie in die Leitungen, Kommissionen und Dramaturgien. Als Kolleg*innen müssen sie einbezogen werden in die soziale Absicherung und betriebliche Mitbestimmung. Als Entdecker*innen und Gefährt*innen der Künstler*innen nehmen sie längst teil an einer veränderten und sich verändernden Wirklichkeit.

© Yvonne Griesel

[1] Roberto Ciulli, „Die Lust am Nichtverstehen“, in: Yvonne Griesel (Hrsg.): Welttheater verstehen. Übertitelung, Übersetzen, Dolmetschen und neue Wege, Berlin 2014, S. 137.

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