Textwerkstatt bedeutet geballte Übersetzerkompetenz an einem Tisch. Gemeinsames Grübeln und Aufspüren geeigneter Bilder und Verben. Einen festen Ort haben wir nicht. Bei der gestrigen zweiten Textwerkstatt stand der Tisch im Seminarraum des LCB am Sandwerder. So waren wir anschließend in der komfortablen Pole Position für das Werkstattgespräch „Krieg im Frieden“, an dem auch Drama-Panorama-Mitglied Mehdi Moradpour als Autor beteiligt ist.
Aus überquellenden Terminkalendern resultierte ein kleiner Kreis: Lydia Nagel, Henning Bochert und Anna Opel. Wir hatten zwei Stunden Zeit, um über eine zentrale Szene aus Heather Raffos Stück „Noura“ zu sprechen, das ich aktuell für Henschel Schauspiel übersetze. Die Schauspielerin und Autorin ist Amerikanerin mit irakischen Wurzeln und schaut in ihrem Werk auf die Situation der Frauen in der arabischen Kultur. Traditionelle Moralvorstellungen, Ehre und Anstand müssen von Frauen oft in besonderer Weise getragen und ausgehalten werden.
Die Hauptfigur Noura, in New York lebende Immigrantin aus dem Irak und aramäische Christin, hat seit 26 Jahren ein Geheimnis vor ihrem Mann, das zu enthüllen hochgradig riskant ist, weil es den Moralkodex ihres Ehemannes empfindlich verletzen wird. Am Ende steht Noura vor einer schwerwiegenden Entscheidung.
In der ausgewählten Szene, dem festlichen Weihnachtsessen, folgen die fünf beteiligten Figuren ihren je eigenen Gedanken und Wünschen, erinnern sich an die Flucht aus der Heimat, umkreisen die Erschütterungen, denen sie ausgesetzt waren und sind. Einige Einwürfe sind extrem lapidar. Wenn Nouras Mann sagt, er habe Lust, mit seiner Frau allein ein Wochenende zu verbringen, ruft Freund Rafa’a „It’s illegal“. Zwar liegt es nahe, das scherzhaft zu verstehen, zweifelsfrei zu klären ist es aber anhand des Ausgangstextes nicht. Andere Diskussion: Ein Argument in Rafa‘as Erklärung, warum er als männlicher Geburtshelfer vor Jahren den Irak verlassen musste: „The middle class turned tribal“ ist nur aus dem Kontext der gesellschaftlichen Umwälzungen zu verstehen – und zu übersetzen. Der Empfehlung, die Autorin zu befragen, was genau sie damit sagen will, werde ich nachkommen.
Die Diskussionen drehten sich um spezifische Bilder, die im Text als Motive auftauchen, zum Beispiel das der offenen Tür, und um Verben. Beim Nachdenken über Tempuswechsel und darüber, wie die vage Formulierung „we were blown open“ zu übersetzen ist, traten die komplementären Temperamente zu Tage. Henning mit der Tendenz, jeden Satz im Kontext der Situation und der Geschichte zu begreifen und ihn sich redend und in großen Schritten auf- und abschreitend anzueignen, um dann auf seine Essenz zurückzukommen. Lydia mit ihren klaren und nüchternen Hinweisen auf linguistische Gesetzmäßigkeiten und Varianten und guten Ideen, was Reduktion und Satzverbindungen angeht.
Sich gemeinsam mit den Besonderheiten und Schwierigkeiten des Originals zu befassen, in diesem Fall drei Köpfe über einem Tisch, hat wieder einmal großen Spaß gemacht. Mehr davon!