Mehr Sprachen, mehr Theater: Nicolas Billon

Nicolas Billon | Foto: David Leyes

vorgestellt von Henning Bochert

Die unterhaltsamen Theaterstücke des kanadischen Autors Nicolas Billon setzen auf überraschende Plots und smarte Dialoge. Darüber hinaus haben seine Stücke des Öfteren ein weiteres Merkmal: Er verwendet andere Sprachen als seine Arbeitssprache Englisch. Diesen Sprachen haftet dann jeweils eine gewisse Exotik an.

In Butcher (Metzger), einem postsowjetischen Kammer-Thriller, haben zwei Linguistinnen für das Stück die osteuropäische Sprache Lawinisch erfunden – mit einer Nähe zur slawischen Sprachfamilie. Ohne über den Plot allzu viel zu verraten: Am Ende des Stücks ist jede Figur eine andere, als die, für die wir – und auch die anderen Figuren – sie eingangs gehalten haben.

Billon liefert zum praktischen Verständnis für das Produktionsteam die Übersetzung der lawinischen Texte ins Englische mit. Hier die erste längere Szene zwischen dem Gefangenen Joseph und der Figur Hamilton in der kleinen Provinzpolizeiwache:

Hamilton sits and takes out his phone.
Josef watches Hamilton.

JOSEF
(whispers) Marko?

Hamilton doesn’t react.

JOSEF
Marko.

Hamilton looks up from his phone.

HAMILTON
I’m sorry…?

JOSEF
Sta lavis vodje? [What are you doing here?]

HAMILTON
I’m sorry. I don’t speak Lavinian.

JOSEF
Da, ritsas. [Yes you do.]

(beat)

Marko!

HAMILTON
My name is Hamilton Barnes, sir.

JOSEF
Mene ne preznames, nelda? [You don’t recognize me, do you?]

HAMILTON
I’m sorry… Do you know where you are?  

(gestures “here”)

A police station. Toronto?

JOSEF
Mie sne vu Torontu!? [We’re in Toronto!?]

HAMILTON
Yes. Toronto. You didn’t know that?

JOSEF
Kato su me nosli? Bio som abresan… I nad som vu Torontu… [How did they find me? I was so careful… And now I’m in Toronto…]

HAMILTON
(mimes) How did you get my business card?

JOSEF
(take his head in his hands) Isuse, ne nagu dumliti… Vu rasiju moter, ka su mi doli…? [Christ, I can’t think straight… What the hell did they give me…?]

HAMILTON
Are you all right?

Josef looks back at Hamilton.

JOSEF
Marko…?

HAMILTON
No no.

(puts hands on his chest)

Hamilton. I’m not who you think I am.

JOSEF
Moe glasci me ne jervoraju… [My eyes do not deceive me…]

(stands up)

Marko–

Josef puts weight on his foot and a sharp pain forces him to sit down again.

Die Frage der Verständlichkeit stellt sich hier nicht, denn dass diese Sprache im Stück nicht verständlich ist, ist maßgeblicher Plotpunkt auch für die weiteren Figuren. So viel sei verraten: Die andere Sprache und ihre Fremdheit und Unverständlichkeit trennt die Figur des Joseph zunächst von den anderen, die nicht den geringsten Anhaltspunkt dafür haben, wer hier vor ihnen sitzen könnte. Aber mit den Identitäten der Figuren verschieben sich im Verlauf der Handlung auch diese Trennungslinien und Zugehörigkeiten.

Für das Stück erfüllt die erfundene Sprache die Funktion einer gemeinsamen, irgendwie im sowjetischen Zusammenhang stehenden Vergangenheit, ohne dass Billon seine Figuren mit einer allzu komplexen spezifischen Geschichte belasten musste. Es geht also gerade nicht darum, eine historische Identität zu bemühen. Dazu hätte der Autor sich mit vielen Fragen befassen müssen, die für das, was ihn an der Geschichte interessiert und was für die Figuren relevant ist, keine Rolle spielen.

Auch in seiner betont heutigen Fassung von Aischylos‘ Agamemnon verwendet Billon eine andere Sprache als Englisch. Wenn Kassandra die Szene an Agamemnons Seite betritt, spricht sie eine andere Sprache, so wie sie es mit der Sprache, die in Troja gesprochen wurde, auch getan hätte. (Welche Sprache überwiegend in Troja gesprochen wurde, ist übrigens nicht bekannt.) Billon hat dafür eine Plansprache gewählt, die zwar vertraut klingt, aber nur von wenigen gesprochen wird. Als Kassandra als Agamemnons Beutefrau auftritt, spricht sie Esperanto – bis zu ihrem raschen Tod. Ein weiterer schöner Einfall im Stück ist übrigens die aktive Gegenwart der für den Sieg geopferten Iphigenie, Agamemnons Tochter, als Geist. Erst als auch Agamemnon (mit demselben Faible für Drastik, das auch Billons Sprache auszeichnet) ermordet wird, erkennt sein Geist den seiner ältesten Tochter.

Clytemnestra pokes her head out of the bedroom.

CLYTEMNESTRA
Cassandra?

Cassandra looks up at Clytemnestra.

CHRYSOTHEMIS
Hey! Is Dad home?

CLYTEMNESTRA
You’re back early. Stay in your room.

(to Cassandra)

Cassandra? Come here, sweetie.

CHRYSOTHEMIS
What is that, anyway?

CLYTEMNESTRA
Your father brought back a Trojan orphan.

CHRYSOTHEMIS
Wait, we’re gonna keep it?

CLYTEMNESTRA
No, it’s gotta take a bath first.

CHRYSOTHEMIS
You realize we can have it clean our house? Run errands? Like, all the time?

CLYTEMNESTRA
Cassandra, come here please.

CASSANDRA

CHRYSOTHEMIS
Can we just think about this for–

CLYTEMNESTRA
No. (to Cassandra) Cassandra! Come on.

CHRYSOTHEMIS
Is it deaf?

CLYTEMNESTRA
Just stubborn, apparently. Get it in here, will you?

Clytemnestra shuts the bedroom door.

CASSANDRA
(„Why have the Gods forsaken me? Why have you brought me to this house, where the walls drip with the blood of family?“)
Kial la Dioj min forlasis? Kial vi venigis min al ĉi tiu domo, kie la muroj gutas per la sango de familio?

CHRYSOTHEMIS
I hope it’s not gonna be this fucking whiny all the time.

OLD MAN
Leave her alone.

CHRYSOTHEMIS
(to Cassandra) Do. You. Speak. English? En-glish.

CASSANDRA
(„Cursed, cursed am I! I will die with him; it is my fate, I see that now.“)
Malbenita, malbenita mi estas! Mi mortos kun li, estas mia sorto, tion mi nun vidas.

OLD MAN
I think she’s praying.

CHRYSOTHEMIS
Oh yeah? (to Cassandra) How’s that working out for you?
(grabs Cassandra)
C’mon, let’s get this over with…

Cassandra bites Chrysothemis.

CHRYSOTHEMIS
OW!
(pushes Cassandra away)
You fucking bitch!
(looks at her hand, back at Cassandra)
You bit me!
(looks at Old Man)
She fucking bit me!

Cassandra goes to hide behind the Old Man.
Chrysothemis steps towards them.

CHRYSOTHEMIS
You’re in a world of trouble now, cunt–

As Chrysothemis steps forward, Iphigenia walks into her path.
Chrysothemis stops, unable to move past Iphigenia.

CHRYSOTHEMIS
I’m… I’m gonna…
(resigned)
Fuck it. Not my problem.
(to Old Man)
Take her to my mother.

Chrysothemis exits to her room.
The Old Man turns to Cassandra. They observe each other.
Cassandra touches his face.

CASSANDRA
(„You have a kind face. You remind me of my grandfather.“)
Vi havas afablan vizagôn. Vi memorigas min pri mia avo.

OLD MAN
I’m sorry… I wish I spoke Trojan…

CASSANDRA
(„We might have been friends.“)
Ni eble esti amikoj.

The Old Man goes and opens the front door.

OLD MAN
Go. Get away. Run.

Cassandra looks at the open door.
She shakes her head.

OLD MAN
Go. Please.

CASSANDRA
(„Don’t you understand that I’m going to die?“)
Ĉu vi ne komprenas, ke mi mortos?

OLD MAN
This house is rotted to its very foundations.

CASSANDRA
(„Friend, there is no escape. I will not win by leaving. Everywhere I go is an open grave.“)
Amiko, ne ekzistas eskapo. Mi ne venkos per foriro. Ĉie, kien mi iras, estas malfermita tombo.

OLD MAN
(desperate) Please. Go!

Iphigenia closes the front door.
Cassandra walks to the bedroom door and opens it.
She turns around just before entering it.

CASSANDRA
(„You will bear witness for me.“)
Vi atestos por mi.

The Old Man looks at Cassandra. She shuts the bedroom door.
The Old Man looks at Iphigenia, overwhelmed by having to witness the death of another innocent.

AGAMEMNON
(off-stage) Aaaaaargh!

CASSANDRA
(off-stage) Aaaaah!

Fünf Fragen an Nicholas Billon

1. Haben Sie einen persönlichen Bezug zu Mehrsprachigkeit?

Ich bin zweisprachig aufgewachsen. Zuhause habe ich Französisch gesprochen, außer Haus Englisch. Außerdem habe ich überwiegend in kosmopolitischen Städten gewohnt.

2. Wieso verwenden Sie in Ihren Stücken mehrere Sprachen?

Mehrsprachigkeit gehörte immer zu meinem Lebensumfeld, und das wollte ich auch in meiner Arbeit zeigen.

3. Welche Funktion haben diese Sprachen in ihren Texten?

Ich arbeite im englischsprachigen Teil Kanadas, aber mein Name sieht frankophon aus und klingt auch so. Ich finde es interessant, dass man – nicht immer, aber gelegentlich – aufgrund meines Namens gewisse Vermutungen anstellt.

Daher habe ich in einigen meiner Stücke das Verhältnis von Sprache und Identität untersucht. Was sagt die Sprache, die man spricht, darüber aus, wer man ist? Oder was andere von einem denken?

Die besten Beispiele dafür sind meine Stücke Butcher und Agamemnon. Im ersten kommt eine erfundene Sprache vor, Lawinisch, die nur von den Figuren im Stück verstanden wird. Letzteres verwendet Trojanisch, wofür ich Esperanto verwende.

Im Stück Butcher gibt eine Figur nicht zu erkennen, dass sie eine Sprache spricht, weil sie weiß, dass andere sonst Rückschlüsse über ihn ziehen würden. Auch Akzente werden als Marker verwendet, um anzuzeigen, aus welchem Teil des Landes jemand kommt.

In Agamemnon kehrt die titelgebende Figur nach Haus zurück, und seien Frau Klytämnestra bemerkt schockiert, dass er Trojanisch gelernt hat – die Sprache des Feindes. Dies ist einer der Schlüsselmomente des Stücks.

4. Wie gehen Sie mit der Frage der Verständlichkeit bzw. Verständlichmachung um? 5. Welche stilistischen Vorteile hat ein mehrsprachig geschriebener Text?

Ich versuche, genügend Kontext zu liefern, so dass der genaue Wortlaut des Sprechtextes unerheblich ist und dass das Publikum im Wesentlichen versteht, was gesagt wird.

Manchmal biete ich nicht ausreichend Kontext an – und zwar, weil ich nicht möchte, dass das Publikum alles versteht. Dieses Mittel darf man nicht überstrapazieren, denn die Geduld des Publikums ist begrenzt (und zu Recht). Aber richtig angewandt, kann das ausgesprochen effektiv sein.

Im Fall von Agamemnon zum Beispiel begreift Kassandra, die Agamemnon als Sklavin aus Griechenland mitgebracht hat, dass Klytämnestra sie ermorden wird. Sie wendet sich an eine der Figuren und fleht sie an, sich zu retten und so schnell wie möglich aus dem Haus zu rennen. Da sie dies aber auf Trojanisch sagt, versteht weder die Figur noch das Publikum, was sie sagt. Auf diese Weise kann das Publikum aber die reine emotionale Kraft in Kassandras Flehen erleben, ohne dass diese durch Bedeutung verwässert wird.

In Butcher verfahre ich ähnlich. Eine Figur gesteht auf Lawinisch ein schreckliches Verbrechen, das sie begangen hat. Zunächst dolmetscht eine andere Figur, was der andere sagt, gerade genug, um den Zusammenhang des Verbrechens zu verdeutlichen. Wenn er aber auf die Details des Ereignisses zu sprechen kommt, kann der Dolmetscher nicht mehr weitermachen, und wir, das Publikum, spüren die Gewalt (die reine emotionale Kraft) des Vorgangs ohne die unnötigen, grausamen Details.

(Das Interview erfolgte schriftlich im Mai 2021.)

Über Nicolas Billon

Nicolas Billon schreibt für Theater, Film und Fernsehen. Studiert hat er im Studiengang Prime Time TV am Canadian Film Centre. Sein erstes Stück The Elephant Song hat er für ein Drehbuch adaptiert (mit Xavier Dolan, Bruce Greenwood und Catherine Keener produziert). Seine Arbeiten gewannen unterschiedliche Preise, darunter der Governor-General’s Award for Drama, ein Canadian-Screen-Preis und ein Drehbuchpreis der Writers Guild of Canada.


Über die Reihe Mehr Sprachen, mehr Theater

Im Zusammenhang mit ihrer Forschung zu Mehrsprachigkeit im Theater untersuchen und präsentieren Henning Bochert, Lydia Nagel und Barbora Schnelle in der Reihe Mehr Sprachen, mehr Theater Autorinnen und Autoren, die sich in ihrer Arbeit mehrerer Sprachen bedienen. Diese Portraits erscheinen in offener Reihe auf diesem Blog. Die gleichnamige Broschüre erscheint zunächst in limitierter Auflage und ist gegen eine Spende auf Anfrage an info@drama-panorama.com erhältlich, so lange der Vorrat reicht.