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Sprechen heißt Handeln. Über die Werkstatt „Sprechakttheorie und Theaterübersetzung“

VON HANNES BECKER

Seit 2021 hat Drama Panorama in den verschiedenen Ausgaben der Reihe panorama: übertheaterübersetzen mehr als 70 Podiumsdiskussionen, szenische Lesungen und Fachwerkstätten zu Themen der Theaterübersetzung veranstaltet. Dabei erhielten die übersetzten Werke und ihre Autor*innen Raum, gleichzeitig konnten wir das Übersetzen für die Bühne in all seinen Dimensionen umfassend diskutieren. Gezeigt hat sich, wie vielfältig und ergiebig und weit mehr als nur ein Spezialthema der Diskurs der Theaterübersetzung ist.

Insofern war es konsequent, zum Abschluss der diesjährigen Veranstaltungen einmal explizit auf die enge Beziehung von Theorie und Praxis in der Theaterübersetzung zu blicken. In der Werkstatt Sprechakttheorie und Theaterübersetzung am 20. November 2023 mit Lydia Nagel und Florian Hein ging es direkt um die Frage, welche Vorteile und Möglichkeiten die Auseinandersetzung mit Theorie für die praktische Arbeit bietet – und welche Rückschlüsse sich umgekehrt aus der künstlerischen Praxis für die Theoriearbeit ziehen lassen können.

Nachvollzogen und erfahrbar gemacht wurden sprachwissenschaftliche Ansätze und Grundideen der Sprechakttheorie durch theoretische Inputs, praktische Übungen sowie anhand von Beispielen aus der Theatergeschichte und der von den Teilnehmer*innen mitgebrachten Übersetzungen und Originaltexte. Als glückliche Entscheidung hat sich erwiesen, nicht nur auf Fragen der Theaterübersetzung im engeren Sinne einzugehen, sondern außerdem die Vorzüge einer sprechakttheoretisch geschulten Herangehensweise für Autor*innen, Regisseur*innen und Schauspieler*innen herauszuarbeiten. So konnten sich – wie es der Gemeinschaftskunst Theater angemessen ist – die verschiedenen Perspektiven und Herangehensweisen gegenseitig erhellen.

Zu Beginn des Werkstatttages hat Lydia Nagel einen Überblick gegeben, der auch ein Rückblick in eine länger zurückliegende Zeit war: 1962 hat der Sprachphilosoph John Austin mit seinem (auf eine Reihe von 1955 gehaltenen Vorlesungen zurückgehenden) Buch How to Do Things with Words die Grundlagen der Sprechakttheorie gelegt. Der sprachphilosophische Hauptgedanke Austins: Sprachliche Aussagen nicht allein unter dem Gesichtspunkt von Wahrheitswerten zu betrachten (Ist eine Aussage wahr oder falsch?), sondern als performativen Akt, als Handlung (Was tun wir, wenn wir sprechen, und was tun wir, indem wir sprechen?). Mit jeder sprachlichen Aussage wird eine Handlung vollzogen und eine Wirkung erzielt: Etwas zu sagen, bedeutet immer auch, etwas zu tun.

Die Art und Weise, wie sich die sogenannten Sprechakte vollziehen, ist dabei weder zufällig noch vollständig determiniert. Es gibt Regeln; diese werden jedoch in der Gruppe, in der konkreten Situation zwischen Sprechenden und Adressierten, bzw. dem gesellschaftlichen Gesamtsystem ausgehandelt und modifiziert. Sprachliche Aussagen, Sprechakte, erhalten ihren – auch theoretischen – Sinn erst bezogen auf den einen oder anderen sozialen Kontext.

Eine Eigenschaft der Sprechakttheorie ist die kategorische Hinwendung der Theorie zur Praxis, zur Analyse sozialer Praktiken der Sprachverwendung unter verschiedenen theoretischen Gesichtspunkten. Ob in Linguistik, analytischer Philosophie, Dekonstruktion, Theaterwissenschaft oder Gender Studies – alles Bereiche, in denen Austins theoretischer Input aufgegriffen wurde –: Zu betrachten ist immer die gesamte sprachliche Situation, in der/durch die/auf die sich sprachliche Aussagen auswirken und aus denen sie hervorgehen. An den jeweiligen Kontexten sprachlichen Handelns müssen sich die theoretischen Postulate der Sprachphilosophie messen lassen, müssen die ihnen zugrundeliegenden Unterscheidungen gewonnen und die dazugehörigen Begriffe geschärft werden. Denn auch die philosophischen Begriffe entstehen nicht in einem geschichtslosen, störungsfreien Raum, sondern unterliegen historisch wandelbaren Umständen der Erkenntnisproduktion.

Wie John Austin ging auch der Philosoph John Searle davon aus, dass Regeln für sprachliches Handeln in der Gruppe entstehen und einem Wandel unterliegen. Dennoch versuchte Searle in seinem Buch Speech Acts von 1969, im Anschluss an den bereits 1960, zwei Jahre vor der Publikation seines Hauptwerks How to Do Things with Words verstorbenen Austin, eine Typologie sprachlichen Handelns aufzustellen, die sich durch alle Situationen der Sprachverwendung zieht und anhand derer Sprechakte identifiziert und klassifiziert werden können.

In vielen weiteren Publikationen und mit zunehmendem Alter ist Searles Anspruch gewachsen, mit den von ihm definierten Kategorien die Welt zu erklären, bei gleichzeitig sinkender Bereitschaft, die eigenen Begriffe aus dem Inneren der von ihm erklärten Zusammenhänge (z. B. Neurobiologie, Künstliche Intelligenz, Sozialontologie) heraus zu entwickeln. Dafür ist Searle oft kritisiert worden, besonders prominent von Jacques Derrida, der in seinem Buch Limited Inc. wiederum auf eine Kritik Searles an Derridas eigener Austin-Interpretation reagiert.

Diese Diskussion ist jedoch nicht Gegenstand der Werkstatt gewesen – sinnvollerweise: Denn aus Sicht sowohl der Praxis der einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen als auch der Theaterpraxis kann die von Searle in Speech Acts entwickelte Typologie durchaus als inspirierender Zugang verwendet werden – mehr offener Entwurf als geschlossenes System – um den Blick auf das eigene Tun zu schärfen.

Ablauf und Aufbau der Werkstatt bildeten die enge Verbindung von Theorie und Praxis ab, die der Sprechakttheorie zu eigen ist. Nach dem theoretischen Input von Lydia Nagel gab es ein von Florian Hein angeleitetes Warm-up für Körper und Stimme, in dem Sprechen und Zuhören geübt wurden und in das verschiedene Sprechakte integriert waren. Nach der Mittagspause folgte ein zweites Warm-up. Und auch während der Diskussion der von den Teilnehmer*innen mitgebrachten Texte, welchen der Großteil der Werkstatt gewidmet war, wurde vom Tisch immer wieder in den Raum gegangen, um die Texte in verschiedenen räumlichen Ausrichtungen auszuprobieren (als Monolog frontal zu einem Publikum, in Interaktion mit einem fiktiven Spielpartner, in Anwesenheit einer zweiten stummen Person etc.) und so den Text in sprachliches Handeln zu übertragen. Auch am Tisch wurden alle Texte gelesen und bei Bedarf abschnittsweise oder vollständig wiederholt. Die in den Texten notierten Rollen, Figuren und auch unmarkierten Passagen wurden von verschiedenen Sprecher*innen gesprochen und der jeweilige Effekt diskutiert.

Die offensichtlichste Erkenntnis war: Ein Satz oder eine Sequenz von Sätzen – auch und gerade von Theatertexten, die für die Bühne und den mündlichen Vortrag geschrieben wurden – können in verschiedene sprachliche Handlungen übersetzt werden, die immer auch unterschiedliche Bedeutungsebenen aufrufen und unterschiedliche inhaltliche Interpretationen voraussetzen oder nach sich ziehen. Der Satz „Es ist kalt“ kann gleichzeitig eine Mitteilung dessen sein, was der Fall ist, in der Wort und Welt als übereinstimmend behandelt werden. Oder er kann eine Aufforderung an ein Gegenüber sein, etwas Bestimmtes zu tun, z. B. das Fenster zu schließen, damit so Wort und Welt in Übereinstimmung gebracht werden.

Die Möglichkeiten des handelnden Interpretierens oder des interpretierenden Handelns vermehren sich, wenn der Sprechakt auf schriftliches Sprachmaterial zurückgreift. Der Text ist gegenüber seinem Vollzug ambivalent, er ist kein Skript, das einfach so „wie es dasteht“ ausgeführt werden kann. Das Wort eines Stücks und die Welt der Bühnensituation können erst durch konkretes Handeln aufeinander zugreifen. Und selbst wenn ein geschriebener Satz gesprochen wird, können so mehrere Sprechakte gleichzeitig ausgeführt werden – und auf diese Weise mehrere Arten des Bedeutens durchgeführt und mehrere Ebenen der Bedeutung aufgerufen werden. Ein Text wie Peter Handkes Publikumsbeschimpfung (1966), das erste einer Reihe von sogenannten „Sprechstücken“ des Autors, das geradezu eine Illustration der Sprechakttheorie ist, ein scheinbar „nur“ auf sprachliches Handeln zugespitzter, alles andere weglassender Theatertext („Sie werden kein Spiel sehen. / Hier wird nicht gespielt werden. / Sie werden ein Schauspiel ohne Bilder sehen.“), muss besonders intensiv interpretiert werden. Gerade weil der Text keinen Figuren zugeordnet ist und keine Geschichte erzählt, stehen noch während des Sprechens verschiedene gleichzeitige Möglichkeiten dessen im Raum, was hier möglicherweise gerade getan wird, in dem dieses oder jenes gesagt wird.

Der Fokus auf den Sprechakt eröffnet auch für die Übersetzung von Theatertexten einen weiten Möglichkeitsraum von Interpretationen desselben Ausgangstextes. Gute Beispiele dafür, wie verschieden im Ergebnis Übersetzungen ausfallen, die einen übersetzerischen Fokus auf den Handlungscharakter des Ausgangstextes legen, sind die Ödipus-Übersetzungen von Friedrich Hölderlin und Hugo von Hofmannsthal. Sophokles’ Tragödie ist – aus der Perspektive der Sprechakttheorie – ein Text, der im Grunde davon handelt, dass ein bestimmter Sprechakt nicht ausgeführt werden kann, nämlich jener, durch den die wahre Identität Ödipus’ offenbart und der Sachverhalt mitgeteilt wird, dass Ödipus seinen eigenen Vater getötet und mit seiner Mutter geschlafen hat. Bis es schließlich doch zu diesem Sprechakt kommt, werden an seiner Stelle diverse andere Sprechakte ausgeführt und wird dadurch eine dramatische Sequenz von rhetorischen Ersatzhandlungen ausgelöst: Durch Befehle und Bitten und Drohungen bedrängt Ödipus sein Gegenüber, die Wahrheit zu offenbaren, ein Drängen, dem sich das Gegenüber durch Klagen und Bitten zu entziehen versucht. Im Kontext der Werkstatt war Sophokles’ Tragödie ein produktives Beispiel, weil darin die einzelnen Sprechakte besonders klar hervortreten und leicht identifizierbar sind und sich ihre Spur auch in formal sehr unterschiedlichen Übersetzungen gut verfolgen lässt. Hölderlin konzentriert sich in seiner Übersetzung allein auf das sprachliche Material, die Sprechakte werden in ihrer expliziten Sprachlichkeit, der Versform der antiken Tragödie, rekonstruiert und nachvollzogen. Offen bleibt – beziehungsweise erst noch beantwortet werden muss – die Frage der Inszenierung und Spielweise, des Ausdrucks, der Emotionalität und Körperlichkeit, wie genau die Sprechakte sich also in der Sprechsituation und außerdem noch der konkreten Bühnensituation vollziehen. Diese „Übersetzung“ der Übersetzung des Theatertextes auf die Bühne bleibt den Leser*innen, Spieler*innen, Regisseur*innen, Bühnenbildner*innen etc. überlassen, die im Text ein differenziertes Ausgangsmaterial vorfinden. Hofmannsthal macht mit seiner Übersetzung das genaue Gegenteil. In langen Regieanweisungen gibt er beispielsweise eine von Fackeln beleuchtete Szene vor und legt offen, dass Ödipus sich in „verzehrender Ungeduld“ befindet, sein Gesicht „jäh von dem einen zum andern“ wendet, sein Gegenüber „jäh am Nacken“ fasst. Außerdem dehnt er einen Vers – wie in einem Stück von Heinrich von Kleist – über mehrere Sprecher*innenwechsel hinweg, was schnelle Anschlüsse, Ins-Wort-Fallen suggeriert und generell eine Spannung zwischen dem notierten Text und seinem Vortrag erzeugt.

Die Analyse der Sprechakte eines Ausgangstexts erlaubt es Übersetzer*innen, sich von der Vorstellung zu lösen, sie müssten in der Zielsprache die genaue sprachliche Form des Ausgangstextes reproduzieren, um diesem gerecht zu werden. Statt nach formalen Entsprechungen kann auch nach funktionalen Äquivalenten in der Zielsprache gesucht werden. Ein und derselbe Sprechakt lässt sich vielleicht in einer Sprache besonders gelungen mit syntaktischen Mitteln realisieren, in einer anderen Sprache bieten sich möglicherweise Komposita und Interjektionen und damit morphologische bzw. lexikalische Mittel an.

Bei der Diskussion der mitgebrachten Texte wurde schnell die Bedeutung eines weiteren wichtigen Aspekts sprachlichen Handelns deutlich: Entscheidend ist, gerade beim Theatertext, nicht nur das sprachliche Material und dessen Verwendung, also: was gesagt wird und wie es gesagt wird, sondern inbesondere wer zu wem spricht. Vorsichtiger formuliert: Die Positionierung des Textes. Die Art und Weise, wie sich die Positionierung des Textes im Sprechakt auf dessen Interpretation und Wirkung auswirkt, haben wir schwerpunktmäßig anhand der Frage diskutiert, wie es durch verschieden positionierte Sprechakte zu Zuschreibungen von Geschlechterrollen und geschlechtlicher Identität kommt, beziehungsweise wie solche Zuschreibungen durch sprachliches Handeln auch durchkreuzt, offengelegt und modifiziert werden können (was Candace West und Don H. Zimmermann Doing Gender nannten). Wir haben gesehen, dass eine solche Positionierung nicht nur über die Zuteilung des Textes an verschieden gelesene Sprecher*innen in der Aufführungssituation erfolgt – was wir ebenfalls erprobt haben – sondern bereits durch die Wahl der sprachlichen Form des Textes nahegelegt (oder auch vermieden) werden kann.

Ist zum Beispiel eine Sprechposition im Ausgangstext in Form und Inhalt eindeutig weiblich markiert, eine andere Sprechposition jedoch in dieser Hinsicht undefiniert, ergibt sich eine je andere Situation und Aussage, wenn in der Übersetzung eine männliche Zuschreibung hinzugefügt wird, oder binäre Zuschreibungen von Geschlecht, bzw. geschlechtliche Zuschreibungen überhaupt, vermieden werden. Schließlich stellt sich auch die Frage, wie sich Theatertext und Theateraufführung ästhetisch gegenüber geschlechtsspezifischen Sprechakten und der jeweils durch sie hervorgebrachten Performance von Geschlecht positionieren. So kann das Verhältnis von Geschlechterdiskurs und theatraler Gestaltung verschieden ausfallen, wenn – um die beschriebenen Positionierungen zu erzielen – bereits eingeführte Sprachregelungen aus der politischen Kommunikation übernommen werden (z. B. Entgendern, generisches Femininum oder die Verwendung des Gender-Sterns) oder durch den Theatertext (z. B. durch Wortneuschöpfungen oder subversive Sprachverwendung) sprachliche Strategien neu eingeführt werden, die für die imaginierte theatrale Situation spezifisch und auf bestimmte theatrale Wirkungen eines Sprechakts hin angelegt sind.

Der Schwerpunkt der Werkstatt auf der Performance von Geschlecht markiert nicht nur eines der produktivsten Anwendungsgebiete der Sprechakttheorie (z. B. in den Arbeiten Judith Butlers wie Excitable Speech und Notes Toward a Performative Theory of Assembly), sondern ergab sich auch ganz selbstverständlich aus den Anliegen der Teilnehmer*innen und den von ihnen mitgebrachten Theaterübersetzungen und selbstgeschriebenen Theatertexten. Darunter waren die Übersetzung einer Penthesilea-Neubearbeitung aus dem Französischen, die Übersetzung eines Stücks mit religiöser Thematik aus dem Neugriechischen, ein sich vollständig aus Grußworten zusammensetzendes Stück und ein Stück, das u. a. Verfahren der konkreten Poesie nutzt, um – nah am sprachlichen Material – Zuschreibungen und Zurichtungen durch sprachliches Handeln offenzulegen, außer Kraft zu setzen und eine andere, neue Richtung zu geben.

Zum Schluss seien hier zusammenfassend einige der Ergebnisse der Werkstatt genannt:

Die Analyse von Theatertexten – seien sie Ausgangstexte für eine Übersetzung oder für eine Inszenierung – hinsichtlich der in ihnen implizierten Sprechakte erlaubt es Übersetzer*innen, die von ihnen übersetzten Texte gleichzeitig genauer und freier zu übersetzen. Theaterübersetzer*innen, die auf den Handlungscharakter sprachlicher Aussagen achten, müssen weniger stark am Wortlaut und der grammatischen Struktur der Ausgangssprache festhalten, um eine dem Ausgangstext angemessene, theatral wirksame sprachliche Form in der Zielsprache zu finden.

Für Autor*innen eröffnet der Fokus auf das Handlungsmoment von Sprache ein weites Spielfeld, um den ungewissen Sprechakt Theatertext in Bezug zur Theatersituation zu setzen – die Theatersituation, die der Theatertext mit ermöglicht, zugleich aber nie zuverlässig antizipieren und noch weniger vorab determinieren kann. Gerade der Umgang mit politisch aufgeladenen Sprechakten kann aber – das hat die Diskussion in der Werkstatt gezeigt – einen engen Zusammenhang zwischen Text und Aufführung stiften, der in einer künstlerisch eigenständigen Aufführungspraxis ansonsten nicht selbstverständlich ist.

Regisseur*innen, Schauspieler*innen und allen künstlerisch an einer Theaterproduktion beteiligten Personen erlaubt die Frage nach dem Handlungscharakter von Sprache, sich Theatertexten so zu nähern, dass diese im Probenprozess „konkreter“ verstanden und besprochen werden können, nämlich vor dem Hintergrund und in den Begriffen der jeweils eigenen künstlerischen Mittel und Anliegen. Die längst polemisch erstarrte Kategorie der „Werktreue“ erhält so möglicherweise einen neuen Sinn, der nicht länger eine Unterordnung der verschiedenen Künste unter den Text in der Aufführungssituation verlangt, sondern die Gleichzeitigkeit und das gleichwertige Zusammenspiel der künstlerischen Mittel voraussetzt und anstrebt.

Schließlich lassen sich aus einer sprechakttheoretisch geleiteten Beschäftigung mit Theatertexten und deren Übersetzung auch verschiedene Impulse für die Sprechakttheorie selbst gewinnen. Eine Art, auf Theatertexte und Theaterinszenierungen, aber auch Performances und andere Formen darstellender Kunst zu blicken, könnte sein, den Einsatz aller ästhetischen Mittel als Handlungsmoment zu betrachten. Alles ist im Theater Handlung. Nicht nur die physische Bewegung im Raum oder der Sprechakt, auch Licht, Video, Musik, Bühnenbild, Kostüme und ihr Zusammenspiel bilden eine komplexe theatrale Handlung, die Zeit verbraucht. Eine Rückmeldung der Theaterwissenschaft an die Sprechakttheorie, wie sie etwa Erika Fischer-Lichte in ihrer Ästhetik des Performativen formuliert, könnte also lauten, einen erweiterten Begriff von Sprache und sprachlichem Aussagen und damit auch von Handlung zu verwenden, und so die Begriffe und Konzepte der Sprechakttheorie durch Anschauung der theatralen Praxis zu erweitern und zu vertiefen.

Literatur:

John L. Austin: How to Do Things with Words, London 1962.

Judith Butler: Excitable Speech. A Politics of the Performative, New York: 1997.

Judith Butler: Notes Toward a Performative Theory of Assembly, Cambridge 2015.

Erika Fischer-Lichte: Ästhetik des Performativen, Frankfurt am Main 2004.

Peter Handke: Publikumsbeschimpfung und andere Sprechstücke, Frankfurt am Main 1996.

John R. Searle: Speech Acts, Cambridge 1969.

Sophokles: König Ödipus, herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Bernd Manuwald, Berlin 2012.

Sophokles: Ödipus der Tyrann. Übersetzt von Friedrich Hölderlin (1804), Tölz 1919.

Sophokles: König Ödipus. Tragödie. Übersetzt und für die neuere Bühne eingerichtet von Hugo von Hofmannsthal (1905), Frankfurt am Main 1920.

Candace West/Don H. Zimmermann (1987): „Doing Gender“, in: Gender & Society, Heft 2/1, S. 125-151.

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