– das trinationale Theaterfestival J-O-Ś in Zittau
von Iwona Uberman
Es gibt sie: kleine Theaterfestivals, die schöne Entdeckungen sind. Es gibt auch sie: die Provinz, die viel zu zeigen hat. Und schließlich gibt es ebenfalls: Grenzregionen, die zeigen, wie Europa funktionieren kann und die auf gutes Miteinander statt auf Abgrenzung und gegenseitiges Misstrauen setzen. Am 22. Mai 2019 begann in Zittau zum achten Mal das fünftägige J-O-Ś, ein trinationales Theaterfestival, organisiert vom Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau mit den Partnertheatern Divadlo F. X. Šaldy Liberec und Teatr im. Cypriana Kamila Norwida Jelenia Góra. Der Name kommt von den drei Berggipfeln des Dreiländerecks: Ještěd-Oybin-Śnieżka.
Den Auftakt gab ein Gastspiel aus Liberec: „Eine Enthandung in Spokane“ des irischen Autors Martin McDonagh, das ein grotesk-abstraktes Zerrbild der US-amerikanischen Provinz schildert. Es ist eine der künstlerischen Fantasie entsprungene, bizarre Geschichte, die jedoch – vor den Hintergrund der Trump-Zeit gestellt – gar nicht nur so absolut fiktiv und ohne Bezug zu der heutigen Wirklichkeit erscheint. Die Handlung spielt an einem einzigen Abend in einem billigen Hotelzimmer eines amerikanischen Kaffs. Das einfache und gut ausgedachte Bühnenbild von Jozef Hugo Čačko schafft dazu einen passenden Rahmen. Es geht um einen Mann, der seine Hand wiederhaben will. Aber bevor man die gruselig-brutale Geschichte seiner „Enthandung“ in allen Einzelheiten erfährt, fallen blind Schüsse, üble rassistische Beschimpfungen, Beleidigungen gegen diverse Minderheiten. Es wimmelt von kriminellen Handlungen und Gewalt.
Das Stück ist bitterböse, streckenweise aber auch sehr komisch. Dabei zeigt es auf überraschende Weise, wie schnell man sich an Grausamkeiten gewöhnen kann und diese als Teil des Lebens hinzunehmen bereit ist, als seinen zwar unangenehmen, aber verkraftbarn Teil. Man stellt erschreckt und amüsiert fest, dass Lachen eine wirksame Waffe gegen das Böse sein kann und dass es sich lohnt, die Hoffnung nicht aufzugeben. Auch wenn es nicht immer hilft, das Ruder des Lebens herumzureißen. Die energiegeladen agierenden tschechischen Schauspieler*innen Jan Jedlinský, Eliška Jansová, Tomáš Váhala und Petr Hanák verkörpern komisch-schräge Gestalten, große Teile des Erfolgs des Abends sind vor allem ihnen zuzuschreiben.
Die zweite Inszenierung des ersten Festivaltags war eine Koproduktion der Theater in Zittau und Liberec, „Reigen“ von Arthur Schnitzler in der Regie der Zittauer Intendantin Dorotty Szalma. Das Stück des österreichischen Autors, vor 100 Jahren geschrieben, ist bis heute weithin geläufig, was an seinem Hauptthema liegt. Sex hat an Attraktivität nicht verloren und er wird von allen getrieben. Im „Reigen“ von 2019 wird die Runde etwas an die Gegenwart angepasst: eine Prostituierte gibt sich umsonst einem Soldaten hin, dieser wechselt später, dank Internet, zu einer Partybekanntschaft, die ihrerseits bei ihrem Haushaltshilfejob ihrem Arbeitsgeber ganz nahe kommt. Letzterer hat dann eine Affäre mit seiner Schauspielkollegin, die mit einem Mann verheiratet ist, der gegen Seitensprünge nichts hat und gern mit jungen Mädchen chattet. Die Antworten seiner neuesten Flamme kommen aber von deren Freund, der sich dabei köstlich amüsiert und nicht mitbekommt, dass ihn sein Herzblatt mit einem Schriftsteller betrügt, der danach mit einer Schauspieldiva schläft. Letztere begehrt einen Mann aus höheren Kreisen, der gern die Dienste von Sexgewerbedamen in Anspruch nimmt und bei der Rotlichtfrau vom Anfang landet.
Dorotty Szalma nutzt die heutigen Multimedia: Bildschirme, Smartphones, Kameras; Internet, Chats, Twitter, Tinder, Youtube und Porno-Streams spielen eine wichtige Rolle. Sie werden mit Szenen über Videofilmproduktion oder Theaterproben kombiniert. Das dreisprachige Spiel der Schauspieler*innen (deutsch, tschechisch, polnisch) trägt zusätzlich dazu bei, dass ein herrliches Durcheinander entsteht, bei dem wahrscheinlich keiner so recht den Überblick behält. Es ist nicht nur eine erkenntnisreiche Abbildung unserer Hightech-Gesellschaft, sondern auch eine Darstellung der Unübersichtlichkeit zwischenmenschlicher Beziehungen in einer anonymisierten Computerwelt sowie der Fallen der virtuellen Kommunikation.
Was für die sechs Schauspieler*innen des „Reigens“ kein Problem zu sein scheint, in einem Stück in drei Sprachen zu spielen, ist für die Zuschauer eine Herausforderung. Bei dem Tempo des Spiels immer wieder zu Übertiteln zu wechseln, ist nicht einfach. Tröstlich ist, dass man trotzdem mitkommt, auch wenn man manche Details verpasst. Gleichzeitig muss man die freundliche Geste schätzen, mit denen die Theater in Zittau und Liberec auch die polnische Seite miteinschließen, obwohl das Teatr in Jelenia Góra an dem Projekt nicht teilnahm. War ihm in Zeiten der PiS-Regierung in der polnischen, katholischen Provinz das Thema Sex zu gewagt?
Nachdem der erste Tag vor allem Unterhaltung in Komödienform anbot, wurde die Stimmung am zweiten Tag viel ernster. Daniel Ratthei hat für das Theater in Zittau das Jugendstück „The walking Z“ geschrieben, eine Auftragsarbeit des Theaters für seine Jugendprojekte und deshalb auch mit Jugendlichen des hiesigen Jugendclubs einstudiert. Mit viel Gefühl widmet sich der Autor wichtigen Alltagsproblemen der Teenager: Mobbing und Ausschließen durch Gleichaltrige, Probleme mit den Eltern, die einem keinen Halt bieten können, sei es, weil sie arbeitslos sind, Alkoholprobleme haben oder nicht existieren (eine Mutter ist an Krebs gestorben), sei es, weil sie als Lehrer zwar Pädagogiktheorien beherrschen, das eigene Einzelkind trotzdem nicht verstehen. Ratthei lenkt mit dem Plot weg von klischeehaften Vorstellungen, dass nur Kinder aus den sozial schwachen Familien an Einsamkeit leiden und es nur Dicke und „Hässliche“ schwer haben, Freunde zu finden.
Im weiteren Verlauf wechselt die realistische Darstellung des Kleinstadtlebens hin zu Fantasy-Welten, was eine Abstraktionsebene schafft, Spannung mit sich bringt und neue Interpretationsfelder öffnet: Leute in der Stadt mutieren zu Zombies und bedrohen die Hauptpersonen (Zoe und Zac). Man darf durchaus spekulieren, ob es sich hier tatsächlich nur um eine Fantasieübung handelt oder ob vielleicht das Ganze eine Metapher auf die heutige Welt ist, die sich zunehmend verhärtet und radikalisiert. Wie mit dem Untergang umzugehen ist, zeigen Zoe und Zac, die einen Weg in eine bessere Zukunft finden. Die Mitglieder des Jugendclubs spielen mit vollem Einsatz und viel Talent und es ist nicht nur gute Bildungsarbeit, die das Theater Zittau hier unterstützt. Auch den Namen des Dramatikers sollte man sich merken, Stücke wie „The walking Z“ werden heute gebraucht.
Das zweite Stück an diesem Abend „Jum’ah. Eine arabische Nacht“, geschrieben und inszeniert von Paweł Kamza, kam vom Lubuski Teatr in Zielona Góra. Es nimmt ein wichtiges Thema auf, das die Medien seit acht Jahren beschäftigt: den Krieg in Syrien. Kamza erzählt die Geschichte dreier Erwachsener, deren Kinder im Krieg auf der Seite der IS kämpfen. Sie treffen sich zufällig an der türkisch-syrischen Grenze, von wo aus sie nach Aleppo gelangen wollen, um ihre Kinder zur Rückkehr nach Hause zu überreden. Was als ambitionierte, ernste Geschichte anfängt, die versucht, Gründe zu erläutern, warum man sich IS-Truppen anschließt, wird schnell zu einer platten, auf Theaterlacher und „Deus ex Machina“-Effekte zielenden Allerweltsgeschichte, die über alles gut Bescheid wissen will. Dabei ist sie psychologisch unglaubhaft, mit Einfällen, die die politische Lage im Nahen Osten eher verzerren. Sie wird durch viele wirre Plots überlagert, wie: ein britischer, nach seinem Sohn suchender Vater John wird zu einem glücksspielsüchtigem Privatdetektiv mit russisch-jüdisch-iranischen Wurzeln, der fließend Türkisch und Arabisch spricht, Kontakte zur russischen Armee besitzt, für einen pakistanischen Auftraggeber arbeitet, sexistische Sprüche von sich gibt und sich als kaltblütiger Gewalttäter erweist, der gleichwohl Humanismus predigt. Auch die Figuren der polnischen und der palästinensischen Mutter werden mit nicht immer glaubwürdigen Lebensstorys überladen. Das ist schade, denn das Thema ist wichtig, jedoch ist das Ergebnis bloß gut gemeint, nicht aber geglückt. Gute schauspielerische Leistung von Anna Haba, Elżbieta Donimirska und Ernest Nita kann daran nichts ändern.
Für die übrigen Tage (das Festival geht bis zum 26. Mai) sind weitere Gastspiele polnischer Theater, aus der Slowakei und sogar Italien vorgesehen. Den Abschluss bildet eine Zittauer Hausproduktion, „Auf hoher See“ von Sławomir Mrożek, die nicht nur in der lokalen Presse, sondern auch in „Die deutsche Bühne“ und „Dresdener Neueste Nachrichten“ sehr positiv besprochen wurde. Aber schon nach den ersten zwei Tagen lässt sich eine positive Zwischenbilanz des diesjährigen Festivals ziehen: Es ist eine zum Nachdenken anregende, vielfältige und unterhaltsame Ausgabe. Das Theater in Zittau scheint schon jetzt bestens für die Bewerbung der Stadt als Kulturhauptstadt Europas vorbereitet zu sein, der die Einwohner der Stadt in einem Bürgerentscheid mit großer Mehrheit zugestimmt haben. Sollte alles so kommen, wie von Bürgermeister Thomas Zenker geplant, wäre es ein Gewinn nicht nur für die Einwohner der Region. Hier wird die Zukunft Europas gestaltet – Berlin und andere Hauptstädte könnten sich davon inspirieren lassen.