Marta Górnicka beim 3. Berliner Herbstsalon des Maxim-Gorki-Theaters

Lob der Gemeinschaft in Vielfalt

von Michael Kleineidam

Mit dem seit 2013 stattfindenden Berliner Herbstsalon erweitert das Maxim-Gorki-Theater in seinem Haus und dem Studio, auf dem Vorplatz, im angrenzenden Palais am Festungsgraben, im Kronprinzenpalais Unter den Linden und an anderen Orten der Stadt sein Theaterprogramm um einen temporären Ausstellungsparcours mit bildender Kunst, Aktionen, Performances, Videoinstallationen und Gesprächsrunden.
„Desintegriert euch!“ hieß das Motto dieser nunmehr 3. Ausgabe des Herbstsalons und der polnischen Sängerin und Regisseurin Marta Górnicka gelang es wie kaum einem/r anderen der Künstler*innen, diesem Motto Ausdruck zu verleihen. „Desintegriert euch!“ entspringt der Vorstellung, dass ein Zusammenleben in Vielfalt die zentrale Herausforderung der Gegenwart ist. Sie wird als korrigierender Gegenentwurf zum Integrationskonzept als Allheilmittel in Zeiten von Flucht und Migration verstanden, hinter dem sich der Wunsch der Mehrheitsgesellschaft nach kultureller Assimilation verbirgt.
Der 3. Herbstsalon verstand sich demnach als eine Einladung, „sich aus vorgegebenen Denkschemata zu desintegrieren und die heutige Gesellschaft in radikaler Diversität weiter zu denken.“ Eröffnet wurde er auf der großen Bühne des Theaters mit Górnickas „Hymne an die Liebe“, dem dritten Teil ihres europäischen Triptychons (M)OTHER COURAGE. Es ist ein wütendes Chorkunstwerk über Polen und die dort gegenwärtig vorherrschende Stimmung in der Gesellschaft, ein Schrei des Protests gegen die Richtung, in die sich das heutige Europa bewegt, wo Populismus, Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus immer deutlicher werden. Die von der Bühne chorisch geflüsterten, gesprochenen und geschrienen Texte sind, wie Górnicka sagt, „erschreckend, blutrünstig, tödlich.“ Der Chor demonstriert Sprache als Mittel der Gewalt und zeigt sie als Macht- und Herrschaftsinstrument. Aber noch sind Polen und Europa nicht verloren. Auch dies wird in „Hymne an die Liebe“ immer wieder aufgezeigt, anders dürfte der ironische Titel kaum zu verstehen sein. Das vom Gorki-Theater mit dem Teatr Polski in Poznań und dem Ringlokschuppen Ruhr koproduzierte Stück wurde nach seiner deutschen Erstaufführung im Juni (Premiere im Januar 2017 in Poznań) bereits mehrfach am Gorki gezeigt und wird demnächst auch in Hamburg am Thalia Theater aufgeführt.
Nicht im Scheinwerferlicht der großen Bühne, aber nicht weniger eindrucksvoll, gewann ein weiteres Werk von Marta Górnicka die Aufmerksamkeit der Besucher*innen. In einem Raum des Palais am Festungsgraben wurde eine Videoaufzeichnung einer Aufführung der Chorproduktion „Verfassung für den Chor der Polen“ („Konstytucją na chór Polaków”) gezeigt, die am 1. Mai vergangenen Jahres am Warschauer Nowy Teatr Premiere hatte. Zu diesem Zeitpunkt wurde in Polen heftig über die von der Regierung geplanten Einschränkungen des Verfassungsgerichts debattiert, die Venedig-Kommission des Europarates hatte ein vernichtendes Urteil über diese Pläne ausgesprochen und auch die EU-Kommission leitete ein Prüfverfahren ein. Das Nowy Teatr hatte hierzu die Idee, den Text der polnischen Verfassung von 1997 von Schauspielern lesen zu lassen. Górnicka wandte ein, dass in dieser Konfliktsituation der Text nicht von einer homogenen Gruppe vorgetragen werden sollte und entschied, zusammen mit ihrem Chor der Frauen eine umfassendere Gemeinschaft zu bilden, den sie den „Chor der Polen“ nannte. Sie begann, Freiwillige für ihre Aktion zu finden, später meinte sie, dass dieser Suchprozess ihr ein schockierendes Bild über den Zustand der polnischen Gesellschaft vermittelt habe. Die Rechte wollte nicht teilnehmen, weil die Linke daran teilnimmt, die Linke nicht, weil die Rechte mitmachte. Doch schließlich konnte sie über fünfzig Menschen von ihrem Vorhaben überzeugen, aus ihnen einen Chor bilden und diesen auf die Bühne bringen. Zu erleben sind Männer und Frauen, Junge und Alte, Rentner*innen und Kinder, Schauspieler*innen, Fußballfans, Mitglieder des Strzelec-Waffenverbandes, Christ*innen, Jüdinnen und Juden, Muslim*innen, Menschen mit Down-Syndrom, polnische Roma, Vietnames*innen, ein Flüchtling aus Tschetschenien. Dieser Chor ist keine homogene, einstimmige Masse, sondern eine Ansammlung äußerst unterschiedlicher Menschen mit konträren Ansichten, die jede ihren Platz findet. Sie alle zusammen verhandeln als Gemeinschaft auf der Bühne die Verfassung Polens. In der Eröffnungsszene füllt der Chor in einer Reihe die ganze Bühnenbreite und zitiert die Präambel der Verfassung Polens „Besorgt um das Wohlergehen unserer Heimat und ihrer Zukunft“. Doch der Chor liest nicht nur den Verfassungstext vor, sondern er formt und modifiziert ihn, stellt ihn in unterschiedliche Kontexte und versieht ihn mit aktuellen Anspielungen. So zitiert eine Frau in einem Hijab Artikel 56.2: „Einem Ausländer, der in der Republik Polen Schutz gegen Verfolgung sucht, kann gemäß den für die Republik Polen verbindlichen völkerrechtlichen Verträgen der Flüchtlingsstatus zuerkannt werden.“
Stimme und Körper sind bei Górnicka nicht getrennt, auch der Körper ist bei ihr eine Stimme, weshalb Bewegung in der Aufführung eine große Rolle spielt. Eine ausgefeilte Choreografie zeigt in wechselnden Formationen die Individualitäten der Chorist*innen, hebt sie oft sogar hervor.

Marta Górnicka studierte Gesang an der Warschauer Musikhochschule „Frédéric Chopin“ und Regie in Warschau und Krakau. Mit Unterstützung des Warschauer Theaterinstituts gründete sie 2009 den „Chor der Frauen“ (Chór Kobiet) und entwickelte eine neue, eigene Theaterform, bei der der Chor als Subjekt die einzige und zentrale Figur auf der Bühne ist. Mit dem Chór Kobiet war der Chor fürs polnische Theater neu erfunden, Górnicka sagte später, sie habe „eine Leiche reanimiert.“ 2010 zeigte sie in Warschau ihre erste Inszenierung „Hier spricht der Chor“, mit „Requiemmaschine“, 2012 erweiterte sie die Besetzung des Chors durch Männer. Górnickas Arbeiten gastierten in der ganzen Welt, Gastspiele in Israel/Palästina und den USA wurden enthusiastisch aufgenommenen, in Polen selbst gab es teilweise heftige Ablehnung. Die Videoinstallation von „Verfassung für den Chor der Polen“ wurde in das Programm der 7. Internationalen Biennale für zeitgenössische Kunst in Moskau aufgenommen und wird im berühmten Kunstmuseum Tretjakow-Galerie gezeigt.

–> Ein längeres Interview mit Marta Górnicka von Iwona Uberman ist hier zu finden.