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Werkstattbericht: Zwischen den Sprachen

von Anna Opel

Um über Mehrsprachigkeit zu reden, fangen wir in der Werkstatt Zwischen den Sprachen (am 28.10.2024 geleitet von der israelisch-deutschen Dramatikerin Sivan Ben Yishai und der tschechisch-deutschen Theaterwissenschaftlerin und Übersetzerin Barbora Schnelle) zunächst bei uns selbst, also den Teilnehmenden des Seminars an. Englisch und Deutsch sind dominant, Mandarin, Tschechisch, Hebräisch, Türkisch, Dänisch und andere kommen noch hinzu – geballte Sprachkompetenz. Und dazu die Beobachtung, dass die verschiedenen Sprachen, die wir sprechen, im alltäglichen Gebrauch keinesfalls fein säuberlich getrennt, sondern in Mischformen auftreten.

Foto: Egge Freygang/Drama Panorama

Grenzregionen und umkämpfte Territorien sind vielleicht die Kontexte, an die man im Zusammenhang mit Mehrsprachigkeit zuerst denkt, zwangsweise zusammengefügte Staaten wie die ehemalige Tschechoslowakei, in der einst zwei Sprachen wunderbar gleichberechtigt koexistierten.  Das Phänomen ist auch wissenschaftlich in all seinen Facetten beschrieben. Laut Seminarleiterin Barbora Schnelle werden in Brigitte Buschs Mehrsprachigkeit (2017, facultas Verlag) die Phänomene Registerwechsel und Code-Switching als Spielart von Mehrsprachigkeit geführt. Schon innerhalb eines Sprachraums existieren verschiedene Ebenen nebeneinander und befinden sich in ständigen Austauschprozessen. Sprachen sind bekanntlich keine starren Entitäten, sondern fluide und veränderliche Organsimen.

Beim Erfahrungsaustausch der Teilnehmenden zu Mehrsprachigkeit erzählt Nadine, dass erst familiäre Kontakte nach Istanbul die türkische Sprache in ihrem Bewusstsein als interessante Sprache etabliert hätten. Jahrzehnte vor der Begegnung hatte sie in ihrem Heimatdorf bei einem türkischen Gemüsehändler gejobbt. Damals hatte sie nicht im Entferntesten erwogen, Türkisch lernen zu wollen oder zu können. Dies ist nur ein Beispiel für die Hierarchisierung unterschiedlicher Sprachen. Quill erzählt von einer Reise nach Armenien, auf der er registriert habe, dass die russische Sprache dort trotz politisch angespannter Situation von der Bevölkerung ohne Vorbehalte genutzt werde.

In einem kurzen historischen Abriss zum Thema Mehrsprachigkeit weist Barbora darauf hin, dass Sprache und Nation seit Beginn der Nationalstaatenbewegung als Zwillingspaar galten. Die Nation findet und etabliert ihre Identität vor allem territorial und sprachlich. Die friedliche oder auch spannungsgeladene Koexistenz mehrerer Sprachen auf einem Territorium ist dabei ein historisch bekanntes Phänomen. Dort jedoch, wo militärische Konflikte ausgefochten werden, kann sich eine Situation verschärfen, wie seit Anfang 2022 im russischsprachigen Teil der Ukraine. Von verwandten Erfahrungen kann Sivan berichten: Sie ist in Israel zwischen Hebräisch und Arabisch aufgewachsen. Die verspielte Kindersicht auf das Sprachengemisch wich einer angespannten Situation, in der die Verwendung der jeweils anderen Sprache als Politikum wahrgenommen und eingesetzt wurde. Man habe den Kindern in der Schule in Israel zwar Arabisch beigebracht, aber akademisches Hocharabisch und nicht jenes Alltagsarabisch, das es ihnen ermöglicht hätte, mit den Nachbarn tatsächlich zu sprechen. Dora Yuemin aus China erzählt von der seltsamen Erfahrung, in der Schule mit Englisch eine Sprache gelernt zu haben, die im Alltag Chinas kaum einen Platz hat, aber als karrierefördernd gilt.  

Wir alle haben auf die eine oder andere Weise Erfahrung mit Mehrsprachigkeit, so die Einsicht. Wie aber wurde und wird das Phänomen der Mehrsprachigkeit bewertet? Mehrsprachigkeit habe lange den Nimbus mangelnder Sprachbeherrschung gehabt, berichtet Barbora. Diese Haltung ist in den globalisierten Gesellschaften weitgehend Vergangenheit und wird aktuell von den liberalen Eliten und sogar von der Mehrheit abgelöst durch Akzeptanz und offensiver Verwendung von Anglizismen, besonders im Zusammenhang mit IT-Themen und popkulturellen Phänomenen. In unserem Kontext der literarischen und künstlerischen Praxis gilt Mehrsprachigkeit ohnehin als Kompetenz und spricht für die Ausweitung sprachlicher und kultureller Horizonte.

Barbora gibt an dieser Stelle Hinweise auf bekannte sprachkritische Philosoph:innen, die sich zum Thema geäußert haben: Judith Butler (Bodies that matter) betone die diskursive und performative Macht der Sprache und mache klar, dass Heterogenes durch die normative Macht der Sprache auf binäre Strukturen reduziert werde; Pierre Bourdieu erklärte in seinem Werk Die feinen Unterschiede (1979) den Zusammenhang von Sprache und Habitus; Julia Kristeva (Die Revolution der poetischen Sprache, 1978) stellte heraus, dass Kunst und Literatur sich per se gegen die Normen stemmen. Die poetische Sprache werde dazu gebraucht, die Sprache von den Fesseln der Konventionen zu befreien.

Und was hat das alles mit der Bühne zu tun? Wie wird Sprache zum Beispiel von einer Autorin gedacht, die für die Bühne schreibt? Sie sei Teil der großen Kollaboration Theater, sagt Sivan. Man befinde sich in diesem Apparat in einer Nussschale, die, obwohl sie sich als kritisch betrachtet, die blinden Stellen der Gesellschaft meist auch in sich trägt. Zu oft sprechen wir über Dinge und Themen („Aboutism“) und befassten uns zu wenig mit der Frage, wie wir das tun. Zu wenig nehmen wir die Werkzeuge unter die Lupe, von denen Sprache ein zentrales ist:

„Missbraucht die Sprache den Körper oder der Körper die Sprache?“, fragt die Dramatikerin Sivan Ben Yishai gewohnt pointiert. Beim Schreiben von Bühnentexten habe stets die Lücke zwischen Text und Ensemble vor Augen. Das Ensemble sei oft homogen, weiß, cis und überwiegend männlich und fühle sich avantgardistischer, als es tatsächlich sei. Im Fall des Maxim-Gorki-Theaters habe es sich von Ben Yishais systemkritischem Stück Bühnenbeschimpfung zunächst nicht gemeint gefühlt. Die Autorin fragt: Wer repräsentiert den Text auf der Bühne und wie steht diese Person zum Gesagten? Zum Beispiel, wenn es um die Geschichte der Juden geht, wie in Yishais Text Wounds are forever, einem Ritt durch die jüdische wie auch ihre eigene Geschichte, untertitelt mit der Genrebezeichnung „Selbstporträt als Nationaldichterin“. Welche Nation vertritt Ben Yishai eigentlich: Israel, Deutschland, nichts von beiden oder beide zugleich? Die Genrebezeichnung ist ein Kommentar zu ihrem Aufenthalt als Hausautorin am Nationaltheater Mannheim, während der der Text entstanden ist.

Sivan Ben Yishai, in den letzten Spielzeiten eine der meistgespielten Autorinnen auf deutschsprachigen Bühnen und damit in der liebsten Doppelrolle als Favoritin des Betriebs und Troublemaker sucht schon aus Pflichtgefühl Opposition, kritischen Dialog, Widerspruch. Sie fixiert sich auf die Fehler im System. Als Dichterin, die, wie sie erzählt, erst in der „Fremdsprache“ zur literarischen Freiheit und Kraft gefunden hat, greift sie das deutsche Kultursystem an, weil es seine Identität aus sprachlicher Homogenität und virtuoser „Beherrschung“ der Sprache bezieht. Es setze seine Meisterschaft systematisch gegen die Marginalisierten ein, analysiert sie.

Aus der kritischen Position heraus fordert Sivan Ben Yishai auf, mastership und Konventionen der Hochkultur neu zu denken. Halten wir am Prinzip der Reinheit und Echtheit und damit an der Distinktion fest? Oder suchen wir einen konstruktiven Umgang mit der multisprachlichen Realität in unserer Stadt und unserem Land? Wir sind umgeben von Menschen, die zwischen Kulturen und Sprachen leben. Aus eigener Erfahrung weiß Ben Yishai: Gerade in der Improvisation, in der mangelnden „Beherrschung“ einer fremden Sprache wird Kreativität frei, Neues bekommt Raum.

In Israel wäre sie niemals Dichterin geworden, erzählt sie. Erst in der Lücke zwischen der ersten Sprache und der neuen – das Englische als Retterin und Fährfrau dazwischen – sei ein Raum entstanden, der ihr das poetische Schreiben ermöglicht habe. Ein Raum voller Ungewissheiten und Fehler. Ihren Stift bezeichnet sie als „broken bone“. Gebrochene Knochen, gebrochene Sprache als poetologisches Konzept gegen die als Zumutung empfundene Anforderung, sich lückenlos in den neuen Kulturraum zu integrieren.

Als Beispiel für eine produktive Verbindung zwischen Form und Inhalt in Bezug auf dieses Thema nennt Ben Yishai Tomer Gardis „Broken German“ (poetologisches Konzept und Titel seines ersten Romans) in dem er Eine runde Sache schrieb. Der Roman über die Geschichte von Kolonialisierung und Sklaverei, wurde, wie Yishai sagt, vom Hinterhof der Sprache aus geschrieben, von dort, wo die Mülltonnen stehen, wo es schlecht riecht und das Licht schummrig ist. Seine Übersetzerin Anne Birkenhauer sei versucht gewesen, Dinge zu flicken, zu korrigieren, merkt Ben Yishai an. Der Betrieb funktioniere nun mal so. Er hinke der künstlerischen Avantgarde hinterher. Ob eine in Deutschland lebende Englisch schreibende Autorin an Stückewettbewerben wie den Autorinnentheatertagen am Deutschen Theater Berlin oder dem Wettbewerb in Mülheim teilnehmen kann, diese Frage wurde offenbar erstmals vom Casus Sivan Ben Yishai aufgeworfen. Von Anfang an ist sie angriffslustig und selbstbewusst aufgetreten und hat die Übersetzung ihres ersten Textes als Original ausgegeben. Ein Novum im Betrieb, dem stattgegeben wurde und die Dichterin in der Folge mit Lob und Preisen überhäuft.

Aber zurück zur Praxis der Mehrsprachigkeit in der Perspektive der literarischen Praxis. Wie ging es weiter mit Sivan Ben Yishais Schreiben? Seit anderthalb Jahren schreibe sie an einem Prosatext, dieses Mal auf Hebräisch, seit langer Zeit also zum ersten Mal in ihrer ersten Sprache. Nun habe sie, weil sie nicht weiterkomme, die Sprache gewechselt, schreibe auf Englisch, teilweise Deutsch. Barbora Schnelle empfiehlt Olga Grasnjowas Die Macht der Mehrsprachigkeit (Duden Verlag), in dem die Schriftstellerin erklärt, warum sie literarische Texte ausschließlich auf Deutsch schreibe: Ihr Russisch sei eingerostet. Wehmütig beschreibt sie die Qualitäten, der ersten Sprache, nach denen sie sich sehnt, die Diminutive zum Beispiel. Es folgt eine Erfahrungsrunde unter den Teilnehmenden zu den unterschiedlichen Qualitäten und der ihnen zur Verfügung stehenden Sprachen. Eine Teilnehmerin berichtet, dass sich die vergangene Psychotherapie auf Deutsch von jener unterscheide, die sie aktuell auf Italienisch mache. Wie denken und träumen wir?

Sivan Ben Yishai performt für die Teilnehmenden Teile aus ihrem in Mülheim ausgezeichneten Stück Wounds are forever (Selbstporträt als Nationaldichterin), einem Text, der, wie die Autorin voranschickt, nicht vom Israel-Palästina-Konflikt handelt, sondern vom Diskurs darüber, wie er in Deutschland und ihrem persönlichen Umfeld geführt wird. In der performativen Praxis arbeite sie üblicherweise mit drei Mikrofonen. Im Seminarkontext spricht sie nach rechts oder nach links und nach vorn, um die Positionen zu markieren. Angefangen zu schreiben hatte sie 2019, 2022 kam das Stück heraus.

Die Teilnehmenden werden Zeug:innen eines rasant und überwiegend auf Deutsch vorgetragenen Parforceritts, in der Klezmerinnen über Falastin klagen und jammern, O2 sich meldet, um das Konto der Protagonistin zu kündigen und neue Telefongebühren einzuführen und ihre Eltern ihr in einem Video-Call vorhalten, sich von Deutschland instrumentalisieren zu lassen. Und dies ist nur ein Bruchteil des multiperspektivischen Konglomerats an Stimmen.

Das Mannheimer Nationaltheater habe den Text abgelehnt, berichtet Ben Yishai anschließend, aber Dramaturgin und Regisseurin hätten ihre Identität und Expertise eingebracht, um einen „Body“, nein, keine Leiche, sondern einen Textkorpus zu schaffen, der sich selbst verteidigen kann. Eine weitere Fußnote: Am 13. Oktober 2023, also wenige Tage nach dem Angriff der Hamas, performte die Autorin das Stück in Bremen – unter Polizeischutz.

Ihre Einstellung zum Thema Übersetzung habe sich in den letzten Jahren gewandelt. Während sie in ihren ersten Jahren als Autorin in Deutschland akribisch Fassungen und Übersetzungen immer wieder abgeglichen habe, vertrete sie nun im Hinblick auf Original und Übersetzung eine andere Strategie. Es sei in Ordnung, wenn es verschiedene Fassungen gebe. Nicht jede Änderung, die sie beispielsweise in der englischen Fassung vornehme, müsse in die deutsche Übersetzung übertragen werden. Und das klingt, als seien die aktuellen Übersetzerinnen Maren Kames und Gerhild Steinbruch Partnerinnen, deren eigenständiger poetologischer Beitrag zum Text als kollaborative Praxis willkommen ist. Nicht Resignation vor der Tatsache der Unübersetzbarkeit mancher Passagen, sondern Einverständnis mit der Vielfalt, Loslassen in Sachen Echtheit und Autor:innenschaft. 

Unter dem frischen Eindruck der in Text und Performance von Wounds gemischten Ebenen und Sprachen, übertrugen wir im praktischen Teil des Seminars einen eigenen kurzen Text in die Fremdsprache, die wir jeweils am besten beherrschen, begleitet von der Aufforderung, ihn auf diese Weise zu ergänzen, weiterzuschreiben, was interessante lockernde Effekte hatte. In der nächsten Stufe übersetzten wir den kurzen Abschnitt in eine weitere, weniger beherrschte Sprache, experimentierten mit kalkuliertem Dilettantismus und versuchten schließlich, eine Passage aus dem Text der Nachbarin in den eigenen Text zu integrieren. All dies als Strategien absichtlicher Verunsicherung und kalkulierte literarische Migration, denn mit der semantischen und grammatikalischen Gewissheit kommen auch andere Selbstverständlichkeiten ins Trudeln und fließen ins Offene.

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