Belarus: Theater als Botschaft einer offenen Gesellschaft

von Irina Bondas

Wenn die Kanonen sprechen, müssen die Musen schweigen, heißt es. Aber manchmal bleiben nur noch die Musen, die durch den Kanonenlärm dringen können. Und durch die ohrenbetäubende Stille.

Zwei in deinem Haus am Teatr.doc in Moskau | Foto: Natasha Josef

Seit August 2020 halten die Proteste in Belarus ungebrochen an, die Berichte darüber rücken immer mehr in den Hintergrund. Dabei verschärfen sich die repressiven Maßnahmen gegen die Bevölkerung. Sie reichen von massenhaften Entlassungen und Exmatrikulationen bis hin zu Folter und Mord. In ihrem Dossier zu Belarus führt die DGO eine aktualisierte Liste international anerkannter politischer Gefangenen. Nicht nur jedes Forum für freie Gedanken und Meinungsäußerung, sondern die ohnehin schon präkarisierte belarusische Kultur als solche steht unter existenzieller Bedrohung, denn gerade dort ist das zivilgesellschaftliche Bewusstsein und der Wunsch nach politischem Wandel besonders groß.

Alle Kolleg:innen, die beruflich oder privat mit Osteuropa verbunden sind, haben Berührungspunkte zu Menschen aus Belarus, und ihre Sorge ist groß. Doch leider bleiben breitere Solidaritätsbekundungen von Seiten europäischer progressiver Kräfte, Gewerkschaften oder feministischer Bewegungen für diejenigen, die ihre Kämpfe in Belarus ausfechten, weitgehend aus, wie auch die ZEIT-Journalistin Alice Bota enttäuscht feststellt.

In solchen Momenten kommt Kulturschaffenden und Übersetzer:innen eine besonders hohe gesellschaftliche Verantwortung zu. Slawist:innen und Übersetzer:innen reagierten prompt mit der Facebook-Seite STIMMEN AUS BELARUS, für die sie ehrenamtlich Zeitzeugen-Berichte ins Deutsche bringen. Auf Arte erscheinen im Dossier zu Belarus regelmäßig Beiträge aus erster Hand, und der Suhrkamp-Verlag hat online einen Themenschwerpunkt eingerichtet, der Autor:innen und Expert:innen zu Wort kommen lässt. Im Verlag fotoTAPETA ist kürzlich die Flugschrift BELARUS! Das weibliche Gesicht der Revolution erschienen, für die unter anderem Drama-Panorama-Mitglieder Beiträge übersetzt haben – nicht nur „ein Buch fürs Mitreden“, wie Cornelia Geißler in der BZ titelt, sondern auch ein Buch über Mut und Solidarität, über die Feminisierung der Gesellschaft, darüber, was passiert und passieren kann, im Guten wie im Schlechten.

Während die massenmediale Aufmerksamkeit längst weitergezogen ist, dringen zu uns in Übersetzung die eindrücklichen Worte der Nobelpreisträgerin Swetlana Alixijewitsch, der Lyrikerinnen Valzhyna Mort, Volha Hapeyeva und Julia Cimafiejeva oder des Dichters Dmitri Strozew, der im Oktober knapp zwei Wochen inhaftiert war. Theatermacherin und Hörspielautorin Inga Lisingevic beleuchtet eindrucksvoll die Ereignisse des Sommers und ihre Auswirkungen im Dlf-Kultur-Feature „Wir haben uns vor diesem Sommer nicht gekannt“. Auch die Kollegin Iryna Herasimowitsch, die unter anderem Dramatiker und Drama-Panorama-Mitglied Mehdi Moradpour ins Belarusische bringt, gibt uns in regelmäßigen Gastbeiträgen tiefe Einblicke in die belarusische Gesellschaft.

Das Drama Insulted. Belarus(sia) stellt verschiedene Perspektiven auf die Geschehnisse in den ersten Wochen der Proteste nebeneinander und zeigt damit eine Gesellschaft voller Widersprüche. Hier sprechen sowohl Oppositionelle als auch Regierungsvertreter:innen, vor allem aber Menschen, die durch die Lebensumstände zu existentiellen Entscheidungen und Interessenskonflikten genötigt werden – und schon sind Täter- und Opferrollen nicht mehr so klar voneinander zu trennen. Immer wieder bieten Lesungen und Diskussionen über Zoom Gelegenheit, in den Austausch mit Darsteller:innen, Übersetzer John Freedman und mit Autor Andrei Kureitschik zu kommen, mit dem Drama Panorama seit rund einem Jahrzehnt durch das Festival Neue Stücke aus Europa in Kontakt steht.

Backstage: Das Feld von Pawel Prjaschko, Gastspiel von teatr post im Rahmen des Festivals KARUSSEL am Hellerau – Europäisches Zentrum der Künste Dresden | Foto: Irina Bondas

In diesem Kampf um Demokratie und Bürgerrechte stehen Theaterschaffende an vorderster Front. Nach seiner klaren Positionierung gegen den Wahlbetrug verlor Pawel Latuschko seinen Posten als Intendant des Minsker Janka-Kupala-Theaters, aus Solidarität folgte ihm das ganze Ensemble des Nationaltheaters in den Ausstand. Heute ist Latuschko eine der führenden Figuren des Koordinierungsrates im Exil. Schon lange ist die belarusische Theaterszene fragmentiert, verstreut zwischen staatlich kontrollierbaren Institutionen, selbstorganisierten und teils klandestinen Parallelstrukturen sowie dem Ausland, auf einer Bandbreite von sowjetischen Theaterkonventionen bis zu postdramatischen Formen des Neuen Dramas. Dabei kommen die innovativsten Theatermacher:innen Osteuropas aus Belarus, wie der Dramatiker Pawel Prjaschko (Drei Tage Hölle ist bei henschel Schauspiel erschienen), dessen Stücke vor allem außerhalb von Belarus aufgeführt und gefeiert werden.

Im Januar 2020 wurden Stücke von ihm am Hellerau Dresden im Rahmen des Festivals KARUSSEL. Zeitgenössische Positionen russischer Kunst gezeigt, für das Mitglieder von Drama Panorama tätig waren. Prjaschko sprengt Linearitäten und erweitert die formelle Theatersprache geradezu ins Unendliche, womit eine in der Vergangenheit stecken gebliebene Gegenwart Ausdruck findet. Während Das Feld die Gesetze der Quantenphysik an zufällig angeordneten realpostsozialistischen Mikroszenen in einer Kolchose durchspielt, erzählt Drei Tage Hölle in einem narrativen Text aus der Vogelperspektive – einer Bühnenanweisung ohne Bühne – vom Alltag in Minsker Trabantenstädten, und mit der Abfolge von 535 Bildern und 13 Bildunterschriften verzichtet Prjaschko in Ich bin frei gänzlich auf dramaturgische Konventionen. Die aus Sowjetzeiten bekannten Motive des Kollektivismus und der Planwirtschaft, der Symbolbestand, aus dem sich die offizielle Rhetorik in Belarus speist, prallen auf konsumistische Abziehbilder eines imaginierten Westens (im Theater sogar auf ein imaginiertes Weltbürgertum), lösen sich von Kausalitäten, führen die Realität ad absurdum und geben damit den Blick frei auf das reale Grau – und das reale Grauen jenseits jeglicher Dramaturgie. Nicht zuletzt geht es aber auch um Fragen nach persönlicher Freiheit und freien Willen.

Die renommierte Festivalmacherin und Kuratorin Eva Neklayeva, die wir 2012 im Rahmen des PAZZ-Festivals kennenlernen durften, ist als Tochter des Dichters und Oppositionspolitikers Wladimir Neklajew bereits seit vielen Jahren gezwungen, außerhalb von Belarus zu arbeiten und zu leben. Wladimir Neklajew kandidierte bereits 2010 bei den Präsidentschaftswahlen in Belarus, wurde brutal zugerichtet, verhaftet und unter Hausarrest gestellt. Das dokumentarische Stück Zwei in deinem Haus von Elena Gremina in einer Produktion des Teatr.doc, das 2015 beim Festival Russischer Theaterfrühling in Berlin zu sehen war, zeigt in einem absurden Kammerspiel den Alltag des Ehepaars Neklajew unter Dauerbeobachtung durch KGB-Beamte. Auch die Gründer des Belarus Free Theatre, Nikolai Khalezin und Natalia Koliada, leben schon seit vielen Jahren im britischen Exil, lange vor der Corona-Pandemie mussten sie mit den Ensemblemitgliedern Inszenierungen über Skype erarbeiten.

Zwei in deinem Haus am Teatr.doc in Moskau, u. a. mit dem ukrainischen Dramaturgen Maxym Kurotschkyn als Wladimir Neklajew | Foto: Natasha Josef

Auch wenn Belarus Free Theatre das prominenteste Beispiel sein mag, erschöpft sich die experimentelle und avangardistische Formenvielfalt der belarussischen freien Bühnen damit bei Weitem nicht und ist überall, auch – und vielleicht gerade – außerhalb der Hauptstadt zu finden, wie im sozial und interdisziplinär orientierten Brester Theater Kryly Khalopa. Davon, dass die junge Theaterszene im Land divers und interessant bleibt, konnte sich das deutsche Publikum seit 2015 beim Austauschprojekt NEXT STAGE EUROPE überzeugen. In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Theater Berlin, dem Hans-Otto-Theater Potsdam und dem Goethe-Institut wurden jährlich Lesungen organisiert und Publikationen mit Dramatik aus Russland und den Ländern der Östlichen Partnerschaft herausgegeben. Mitglieder von Drama Panorama haben das Projekt von Anfang an begleitet. Bei der diesjährigen digitalen Ausgabe wurde die belarusische Dramatikerin Kacia Chekatouskaya mit Diskret, übersetzt von Iryna Herasimowitsch, von Kritikerin Barbara Behrendt besonders hervorgehoben. Chekatouskaya behandelt soziale Themen und arbeitet mit dokumentarischen, insbesondere mit autodokumentarischen Mitteln, so auch in dem Stück Diskret, das in der geschlossenen Psychiatrie spielt und über die Psychiatriemauern hinaus Menschenwürde und Selbstbestimmung in Systemen verhandelt. Auch Chekatouskaya war unter den vielen Tausenden Menschen, die in den letzten Monaten vorübergehend in Haft waren.

Leider haben wir im Moment sehr begrenzte Möglichkeiten, unsere Partner:innen und Kolleg:innen in Belarus zu schützen und zu unterstützen – selbst Geldüberweisungen werden von Behörden eingefroren und konfisziert. Jede:r mit Kontakten zu Belarus:innen verfolgt die Entwicklungen mit Bestürzung. Aber über eine politische und menschliche Situation hinaus geht es auch um eine Kultur, deren Vermittler:innen wir sind. Bei einer Diskussion im Rahmen des Theatertreffens Berlin erklärte Nikolai Khalezin 2013, dass die Tabuisierung wichtiger Themen und die Einschränkung bürgerlicher Freiheiten zwangsläufig jede freie Äußerung zu einem politischen Akt mache. Wir dürfen nicht vergessen, dass es nicht ausschließlich um Politik geht. Das belarusische Theater ist Teil des Welttheaters, das für alle da sein sollte, offen und zugänglich. Genau deswegen muss weniger auf die Kanonen und mehr auf die Musen gehört werden. Oder mit den Worten von Iryna Herasimowitsch: „Sehen Sie hin!“