In Erinnerung graben

Polnisch-deutsche Gedächtnis-übungen

von Michael Kleineidam

„Polnisch-deutsche Gedächtnis-übungen“ von Erwin Axer

Der Regisseur, Theaterdirektor, Autor und Hochschullehrer Erwin Axer wurde 1917 in eine wohlhabende Familie intellektueller und assimilierter Juden in Wien geboren. Bereits drei Jahre später zog die Familie nach Lemberg, wo der Vater als erfolgreicher und sehr bekannter Rechtsanwalt arbeitete, u. a. auch als Rechtsberater des dortigen Theaters. In Lemberg (Lwów, Lwiw), der Stadt, in der Vertreter vieler Nationen und Religionen vielsprachig zusammenlebten, verbrachte Axer seine Kindheit und die frühen Jugendjahre. Sie sollte in seinem späteren Leben ein konstanter Bezugspunkt sein.

Aus Anlass seines 100-jährigen Geburtstages gab das Instytut Teatralny in Warschau einen zweisprachigen Band mit Prosatexten von Axer heraus, von denen die meisten zwischen 1978 und 2003 als „Gedächtnisübungen“ in der monatlichen Zeitschrift Dialog erschienen und auch in vier Bänden veröffentlicht wurden (1984, 1991, 1998, 2003). Das Buch „Polsko-niemieckie ćwiczenia pamięci/ Polnisch-deutsche Gedächtnis-übungen“ enthält fünfundvierzig Texte, in denen Axer mit Distanz und viel Selbstironie Personen, Orte, Dinge und Ereignisse aus seinem Leben schildert, zusammengenommen Bruchstücke einer Biografie.

Es sind Texte vielfältigster, oft hybrider Art: Aufsätze, Gedankensplitter, Anekdoten, Kolumnen, essayistische Reflexionen, kurze Geschichten. Wie Elżbieta Baniewicz in der Einleitung anmerkt, wurden die Texte für ausländische, insbesondere deutsche Leser ausgewählt.

Etwa die Hälfte des Buches handelt von der Kindheit und Jugend des Autors sowie der Zeit bis zum Ende des 2. Weltkrieges. Axer blieben keine grausamen Erfahrungen des Lebens erspart, er erlebte den Überfall Deutschlands auf Polen, die Besetzung Lembergs durch die Sowjetunion und schließlich die Eroberung der Stadt durch die deutsche Armee. Nach der Verhaftung seines Vaters floh er nach Warschau und versteckte sich unter falschem Namen bei seiner späteren Ehefrau Bronisława Kreczmar. Mit ihr nahm er am Warschauer Aufstand teil, wurde von den Deutschen gefangen genommen und als Zwangsarbeiter in einen Steinbruch im Harz verschleppt. Im Januar 1945 führte er während der Evakuierung des Arbeitslagers eine Gruppe Mitgefangener über die Frontlinie zu den Amerikanern. Dort machte ihn Bronisława ausfindig und ging mit ihm im Sommer 1945 nach Łódź, wo er seine Mutter wiedertraf. Vater und Bruder Henryk sah er nie wieder, sie wurden von Deutschen ermordet.

Aufschlussreich sind die Schilderungen der Ereignisse vor und nach Kriegsausbruch („Der Rückzug 1939“). „Im Juni wettete ich mit Jurek, dass es Krieg geben würde. Das bedeutet jedoch nicht, dass ich wirklich daran geglaubt hätte.“ Dieser Eingangssatz kennzeichnet gut die ambivalente Stimmung, die in Polen herrschte. Im Nachhinein verwundert die Mischung aus Fatalismus, Größenwahn, Ignoranz und Optimismus, mit der die Umgebung des Autors das Herannahen und den Beginn des Krieges betrachtete. Dieser Bericht, der zwischen 1944 und 1945 nach dem Warschauer Aufstand in der Gefangenschaft entstand, ist, wie Axer in einer Nachbemerkung notiert, „in einem bewusst infantil-objektiven Stil gehalten. So wie ich damals, im Jahre 1939, die Dinge als Zwanzigjähriger wahrgenommen hatte.“ Literarische Höhepunkte des Buches sind hingegen Prosa-Miniaturen wie „Erster Juli 1941“, „Der Arzt“ oder „Der Transport“. Mit wenigen Worten gestaltet Axer hier Dramen des damaligen Alltags. Besonders berührend ist auch, wie er das Wiedersehen mit seiner Mutter beschreibt („Rückkehr 1945“): „ … plötzlich löste sie sich vom Boden, von dem steinernen Absatz, springt mit beiden Beinen in die Luft wie ein zwölfjähriges Mädchen, die Arme ausgebreitet und in die Höhe gereckt, auf dem Gesicht eine Grimasse aus Lachen und Weinen, und die Tränen flossen in Strömen. So habe ich sie in Erinnerung.“   

Außerhalb Polens ist Erwin Axer vor allem als großer Theaterregisseur und Lehrer des Regisseurs Konrad Swinarski bekannt. So ist es nicht verwunderlich, dass in dem Buch Themen des Theaters viel Platz eingeräumt wird. Autoren, Schauspier*innen und Theaterdirektoren haben ihre prägnanten Auftritte. Als Kind besuchte Axer im Sommer oft ein Puppentheater („Das Kasperletheater“) und das österreichische Volkstheater in dem Kurort Baden bei Wien, zu Hause in Lemberg waren prominente Theaterleute wie Wilam Horzyca und Leon Schiller zu Gast. Axer kannte sie persönlich und sah ihre Inszenierungen im Theater. Nicht zufällig begann er daher im Oktober 1935 ein Studium am Polnischen Institut der Theaterkunst (PIST) in Warschau, das von Leon Schiller geleitet wurde. Er beendete das Studium am PIST 1939 und wollte die Stelle eines Regieassistenten am Warschauer Nationaltheater antreten, der Ausbruch des Krieges vereitelte diesen Plan.

Nach dem Krieg wurde Axer stellvertretender Direktor des von Michał Melina geleiteten Kammertheaters in Łódź, das 1949 nach Warschau verlegt wurde, nunmehr Teatr Współczesny (Zeitgenössisches Theater) hieß und bald eine wichtige Rolle in der Warschauer Theaterlandschaft spielte. Nachdem 1953 das Zeitgenössische Theater mit dem Nationaltheater fusioniert worden war, übernahm er die Gesamtleitung beider Bühnen, beschränkte sich aber nach drei Jahren auf die Leitung des Zeitgenössischen Theaters und formte es auch als Regisseur zahlreicher Aufführungen bis 1981 zu einem der besten Theater Polens. Leon Schiller sagte noch vor dem Krieg, man müsse „Polen in Europa halten“. Diesem Motto folgend führte Axer konsequent die zeitgenössische dramatische Literatur in die polnische Szene ein, u. a. Brecht, Pinter, Bond, Ionescu, Beckett, Bernhard, Sartre, Frisch, Dürrenmatt. Das polnische Gegenwartsdrama erschien dagegen nicht allzu oft im Repertoire der Bühne, die Ausnahme war Sławomir Mrożek. An Theatern im Ausland war Axer vor allem nach 1968 ein viel beschäftigter Regisseur, in New York, Leningrad, München, Düsseldorf, Hamburg, Amsterdam, Wien und Zürich.

Aus den ausgewählten Texten wird auch deutlich, welch große Rolle Autoren und Schauspieler*innen für den Theaterkünstler hatten, wie besonders, oft freundschaftlich seine Beziehungen zu ihnen war. Ewa Starowieyska, eine seiner engsten Mitarbeiter*innen, die seit 1962 die Bühnenbilder für alle seine Aufführungen entwarf, findet an vielen Stellen des Buches Erwähnung. Axers Grundeinstellung gegenüber einem Autor und seinem Werk war von großer Loyalität geprägt. Eine Inszenierung wurde immer dem Autor und dem Drama untergeordnet, niemals umgekehrt. Schauspieler*innen begegnete er als gleichberechtigten Arbeitspartner*innen, deren Eigenarten er zum Vorteil des Ganzen nutzte.

Axer war ein scharfsinniger Beobachter, der seine Beobachtungen, gekonnt auf den Punkt gebracht, in Worte zu kleiden wusste, an der Dramaturgie der Texte sind die Erfahrungen des Theaterkünstlers ablesbar. Vorhang auf: „Er war bis an sein Lebensende ein Kind und er war bis zum Lebensende ein Mann.“ So beginnt das Porträt von Georgi Towstonogow, dem Leiter des Leningrader Gorki-Theaters und großen Förderer von Erwin Axer. In dem Buch werden Begegnungen mit Bertolt Brecht, Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch so geschildert, dass die charakteristischen Eigenschaften der Beschriebenen deutlich werden. Die von ihm hoch geschätzte Schauspielerin Irena Eichlerówna kennzeichnet er so („Rennen auf der Bühne“): „Dieser Speiseplan gab ihrer Gestalt die Form, die proportional zu ihrer Persönlichkeit war, was in meinen Augen ihrem Charme und ihrer Schönheit in keinster Weise Abbruch tat.“

Bedauerlicherweise ist in dem Buch nur eine Inszenierung ausführlich beschrieben, „Die Schwärmer“ von Robert Musil, 1981 am Wiener Burgtheater aufgeführt. Dieses als Lesedrama bezeichnete Stück galt bis dahin weitgehend als aufführungsuntauglich. Axer riskierte, den Text ohne Striche zu spielen, über vier Stunden dauerten die Vorstellungen. Die Inszenierung wurde ein riesiger Publikumserfolg und zum Berliner Theatertreffen eingeladen. Axer schreibt in seiner charakteristischen, nie koketten Bescheidenheit, das Hauptverdienst, das Repertoire um ein Theaterstück eines großen Autors bereichert zu haben, gebühre dem Wiener Intendanten Achim Benning. Der habe schließlich die Voraussetzungen für den Erfolg geschaffen und ihn hätte man als Ersten gelyncht, wenn es schief gegangen wäre. Eine für Erwin Axer typische Haltung.

DAS BUCH:

Erwin Axer, Polsko-niemieckie ćwiczenia pamięci / Polnisch-deutsche Gedächtnis-übungen, hrsg. von Instytut Teatralny im. Zbigniewa Raszewskiego, Textauswahl: Elżbieta Baniewicz und Agnieszka Rabińska; polnisch-deutsch, Übersetzungen: Antje Ritter-Jasińska, Hans Rosenau und Andreas Volk; mit zahlreichen Fotos, Warschau 2017

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