Ein Theaterfestival über die Krisen der Welt gerät in die Krise
von Michael Kleineidam
Das von Krystyna Meissner 2001 gegründete und im Zweijahresrhythmus stattfindende Theaterfestival Dialog-Wrocław stand dieses Jahr vom 14. bis 21. Oktober unter dem Motto „Vorwärts – aber wohin?“ Eingeladen waren für das Hauptprogramm sieben Produktionen, drei davon aus Polen. Gezeigt werden sollte, wie das Theater mit den heutigen Krisen in der Welt umgeht.
Doch bevor es losging, geriet das Festival selbst in eine existenzgefährdende Krise. Achtzehn Tage vor Beginn strich das Ministerium für Kultur und nationales Erbe fest zugesagte Fördergelder in Höhe von einer halben Million Złoty, weil eine Aufführung der als anstößig empfundenen Inszenierung „Der Fluch“ des slovenischen Regisseurs Oliver Frljić vorgesehen war. Dabei sollte dieses Gastspiel des Warschauer Teatr Powszechny nur im Nebenprogramm gezeigt und allein durch Eintrittsgelder außerhalb des Festivalbudgets finanziert werden. Die Festivalleitung – der Programmleiter Tomasz Kireńczuk musste ohne die erkrankte Direktorin Krystyna Meissner alles allein schultern – sah sich in der Klemme: Entweder konnte sie sich der Zensur beugen und „Der Fluch“ fallenlassen oder gleich das ganze Festival absagen oder auf die drei polnischen Inszenierungen verzichten.
Kireńczuk bevorzugte die letzte Variante. Es kam anders. Kaum hatte er seine Entscheidung bekannt gegeben, erreichte eine Welle der Solidarität das Theater. Es fanden sich eine Vielzahl privater Spender, auch das Goethe-Institut gab eine ansehnliche Summe, das Teatr Współczesny stellte kostenlos Räumlichkeiten und Personal zur Verfügung, es gab die kreative Unterstützung der nationalen und internationalen Kunstszene. Dies alles und der Einfallsreichtum der Veranstalter ermöglichten es, das Programm wie vorgesehen zu präsentieren. „Eine Geste“ von Wojtek Ziemilski und Marta Górnickas „Hymne an die Liebe“ wurden wie geplant in Wrocław gezeigt, für Jan Klatas Inszenierung von Ibsens „Volksfeind“ am Stary Teatr in Kraków wurde eine besonders originelle Lösung gefunden. Als Kireńczuk bei der Eröffnung des Festivals die eingetretene Situation und deren Lösung schilderte, reagierte das Publikum mit lang andauernden Standing ovations. Diese solidarische Haltung war während des gesamten Festivals vor allem auch in den Publikumsgesprächen bei allen Beteiligten deutlich spürbar.
Um Solidarität und Gemeinschaft ging es in vielen der gezeigten Stücke Mit zwei Aufführungen des belgischen Choreografen und Regisseurs Alain Platel und seiner Tanzcompagnie Les ballets C de la B&NT Gent gelang dem Festival ein fulminanter und heftig umjubelter Auftakt. „En avant, marche!“ ist ein großartiges Zusammenspiel aus Sprech-, Musik- und Tanztheater und eine gelungene Verbindung von Gefühl und Gedankentiefe. Hauptdarsteller der Inszenierung in vier Sprachen sind eine Blechblaskapelle und ihr dem Tod geweihter Posaunist. Die Blaskapelle wird gezeigt als ein Ort der Gemeinschaft, als eine soziale Heimat, das Stück selbst ist ein Loblied auf diese Gemeinschaft. In einem zweiten von Gustav Mahlers Musik inspirierten Stück „nicht einschlafen“ zeigt Platel, was geschieht, wenn eine solche Gemeinschaft sich auflöst und dies zu einer Katastrophe führt. Eine stringente Erzählung gibt es dabei nicht, die aus acht Tänzern und einer Tänzerin (nicht in einer Opferrolle) bestehende Tanzkompanie entwickelt in einem gruppendynamischen Prozess mit extremen Bewegungsabläufen eine apokalyptische Vision der Gegenwart. Doch auch hier gibt es stellenweise Schimmer der Hoffnung.
Blutiges Gemetzel ist bekanntlich auch Shakespeares Dramen nicht fremd. In dem Theatermarathon „Kings of War“ sind für Ivo van Hove die historischen Chroniken Heinrich V., Heinrich VI. und Richard III. der Ausgangspunkt um Verschwörung, Provokation, Gewalt und Krieg als universelle Mittel und Wege zur Macht darzustellen und so Geschichten über die Gegenwart zu erzählen. Die Helden der Vergangenheit sehen sich immerwährend vor die Wahl gestellt, zwischen den Interessen des Landes und ihren eigenen Interessen und Bedürfnissen entscheiden zu müssen.
In dem Stück „Eine Geste“ widmen sich der polnische Regisseur Wojtek Ziemilski und das Warschauer Nowy Teatr den Ausgrenzungserfahrungen gehörloser Menschen. Vier hinsichtlich des Geschlechts, des Alters und der Stärke des Hörverlustes unterschiedliche Darsteller*innen schildern durch Monologe (Taube müssen nicht auch stumm sein) und Gesten Geschichten über das tägliche Leben von Gehörlosen und zeigen Möglichkeiten und Grenzen ihrer Kommunikation auf. In einem Zusammenwirken von faszinierender Choreografie der Hände und Mimik führen sie ein in die Vielfältigkeit der Gebärdensprachen, zeigen eine Welt, die anders funktioniert und eine andere Sinnlichkeit hat.
Um die Frage „Wer bin ich?“ und die selbstbewusste Behauptung gegen Ausgrenzung geht es in der Produktion MDLSX der italienischen Kompanie Motus (Rimini), in der die Performancekünstlerin Silvia Calderoni autobiografisch sich und ihren Körper rücksichtslos entblößend eine Geschichte über Geschlecht und Androgynie, über Gewalt, Schmerz, Verwirrung und Akzeptanz erzählt. Ihre Vergangenheit wird über Familienfotos dargestellt, die auf die Rückseite der Bühne projiziert werden. Wenn sie als Teenager größer wird als die anderen und sie sich nicht auf die übliche Weise entwickelt, stellt sie sich eine große Frage: Bin ich ein Mädchen oder ein Junge? Kann sie einfach nur sie selbst sein, nicht ein Geschlecht, das andere bestimmen, sondern nur sein?
In weitaus direkterer Hinsicht politisch ist „Hymne an die Liebe“ von Marta Górnicka und ihrem THE CHORUS OF WOMEN, das vom Teatr Polski in Poznań u.a. mit dem Gorki Theater in Berlin koproduziert und dort auch bereits gezeigt wurde. Górnicka bezeichnet ihr Stück als „ein fürchterliches Nationalgesangsbuch“ aus Hymnen, patriotischen, folkloristischen und religiösen Liedern, in denen sich in brutaler Sprache eine pervertierte Liebe zum Vaterland spiegelt, in dem es nur um die eigene Bevölkerung geht und das andere ausschließt. Górnicka glaubt, „dass der Chor als Gemeinschaftsfigur zeigen kann, wie die unbewussten Gemeinschaftsmechanismen funktionieren.“ Sie hat ihren Chor aus Theaterprofis und Laien verschiedener Hautfarben und Herkünfte, aus Frauen und Männern, Alten und Jungen sowie Menschen mit Behinderung zusammengestellt und tritt mit diesem Gegenbild einer „reinen“ Gesellschaft schon optisch Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und den erstarkenden nationalistischen Tendenzen in Polen und anderswo in Europa entgegen. Das Stück endet mit der Matthäuspassion von Bach, „Kommt ihr Töchter, helft mir klagen“.
Anders als die übrigen Produktionen fand die Aufführung von Ibsens „Der Volksfeind“ in der Regie von Jan Klata nicht in Wrocław, sondern an ihrem Entstehungsort im Krakauer Stary Teatr statt. Um Kosten zu sparen, wurde das Publikum in Bussen nach Kraków zur Vorstellung und danach wieder zurück nach Wrocław gefahren, der Ausflug dauerte bis weit nach Mitternacht. Dieses besondere Theatererlebnis war offensichtlich so eindrücklich, dass Mitfahrende sich fest vorgenommen haben, zukünftig öfter gemeinsam zu Aufführungen in andere Städte zu fahren.
Das Festival Dialog-Wrocław 2017 wollte Bestandsaufnahmen vom Zustand der Gegenwart liefern und zum Nachdenken über Wege in die Zukunft anregen. Dies ist ihm vortrefflich gelungen.