VON ANNA OPEL
Auszug aus meiner Biografie „NOW. Judith Malinas Leben für das Theater.“ Das Buch erscheint im März 2026 anlässlich des 100. Geburtstags der großen Theatermacherin im AvivA Verlag, Berlin.
Anlässlich der Recherche war ich vom 19. bis 25. Mai in Süditalien im Archiv der Fondazione Morra. Der Direktor Giuseppe Morra sammelt seit vierzig Jahren Avantgardekunst des 20. Jahrhunderts. Das Archiv des Living Theatre wurde vor zwei Jahren in einen frisch sanierten Palazzo in eine entlegene Bergstadt ausgelagert.
Von der Pension aus laufen wir bergauf, über den Marktplatz, durch eine kleine malerische Gasse, von der aus gelegentlich der Blick frei wird ins paradiesische Tal. Wir gehen die kurze Strecke zu Fuß zum Archiv. An der Fassade des Palazzo Morone, in dem ausschließlich das Archiv des Living Theatre untergebracht ist, hängt ein großes Plakat mit einem Foto von Julian Beck und Judith Malina aus dem Jahr 1983. Schon stehen wir vor der doppelflügeligen Holztür. Im frisch sanierten Palazzo hängen Fotografien von Julian Beck und dem Living Theatre an den Wänden. Straßenaktionen in Neapel, Mysteries, Six Public Acts, alles von italienischen Fotografen aufgenommen. In der oberen Etage hängen Julian Becks Bilder. Großformatige Gemälde mit bunten Farbflächen, Spannungen, Linien. Ausdrucksstark und verwegen, wie geschaffen für diese Räume, angeleuchtet von in diesem herrlichen süditalienischen Licht.

Das Archiv des Living Theatre nach Caggiano auszulagern gehört, so höre ich, zum Konzept der Stiftung. Dezentralisierung, Wiederbelebung alter Gemeinden und Ortschaften, Infiltration der ländlichen Region mit Kunst.
Am andern Morgen, meinem ersten Arbeitstag im Palazzo Morone, der Direktor ist abgereist, machen wir uns mit der Systematik vertraut. Auf der mittleren Etage schwarz-weiß-Abzüge des Fotografen Fabio Donato. Im eigentlichen Arbeitsraum auf derselben Etage ein einfacher Schreibtisch, große Metallschränke. Pappkisten und mit Ziffern gekennzeichnete Ordner stehen hinter den schweren, abschließbaren Schiebetüren aus Glas. Wir holen einzelne Kisten heraus, vergleichen die Beschriftungen mit den Signaturen im Katalog. Im Katalog war von Materialien und Programmzetteln die Rede, von Tagebüchern und Fotografien.
Das Archiv des Living Theatre in Caggiano umfasst auch das malerische Werk des abstrakten Expressionisten Julian Beck, seine Bühnen und Kostüme. Immer wieder schiebt sich während meiner Recherche nach Judith Malina Julian Beck vor den Umriss seiner Komplizin und Frau.

Potito, mein Assistent, der mit seinem kahlgeschorenen Kopf und dem langen Gewand und seiner Seelenruhe an einen buddhistischen Mönch erinnert – die alten Frauen bekreuzigen sich, wenn wir nachmittags an ihren Haustüren vorübergehen – orientiert sich, findet nach und nach alles, was ich mir aus dem Katalog aufgeschrieben hatte. Einen Ordner mit Programmzetteln aus der Anfangszeit des Living Theatre im Cherry Lane Theatre. Eine Zeichnung von Cocteau auf jedem Titel, außerdem Titel des Stücks und Besetzung, mehr nicht. In der Glasvitrine sind kleinformatige Büchlein ausgestellt, nicht einmal visitenkartengroß. Und Judith Malinas Zeichnungen. Äußerst reduziert, ein Frauenakt, eine Straßenszene, ein Auge, eine Statuette, ein Tierumriss. Daneben ein Minifotobuch mit Porträts des ganz jungen Julian Beck und der ebenso jungen Judith Malina. Irgendwann in diesen Tagen darf ich das Büchlein aus der Vitrine holen und blättern. Es findet sich auch ein Hochzeitsbild darin: Wenn sie nebeneinander stehen, ist der Größenunterschied frappierend. Sein langer schlaksiger Körper und sie, entschlossener Blick, aber klein wie ein Kind und ebenso zart. Souvenirs wie aus einer anderen Welt, räumlich weit weg und noch ferner in der Zeit. Die Bescheidenheit, die rührende Schlichtheit dieser persönlichen Dinge.

Am ersten Tag beginne ich die Archivarbeit mit dem Ordner, in dem ich noch unveröffentlichtes Tagebuchmaterial Judith Malinas aus den Jahren 1959 bis 1961 finde. So hatte ich es im Katalog gesehen, es kaum glauben wollen. Und nun finde ich es. Blicke durchs Schlüsselloch. Wie war es Judith Malina gegangen in diesen Monaten ihres ersten großen Erfolges mit dem Living Theatre? The Connection, Premiere im Juli 1959, ein Stück über die Drogensucht in der Jazzszene und die Frage, wie das alles zusammenhängt.


Mit warmer Jacke sitze ich in den noch kühlen Räumen am schlichten Schreibtisch und gehe eilig, hellwach, aufgeregt Judith Malinas Tagebuch durch. Vom Januar 1959 bis Ende Mai 1961. Die einzelnen, maschinengeschriebenen Seiten stecken in Prospekthüllen, sind kleinteilig überarbeitet. Wörter durchgestrichen, Tippfehler korrigiert, handschriftlich ausgeführte Inserts jeweils auf dem Blatt auf der linken Seite, mit dünnen Pfeilen an die richtigen Stellen auf der Seite rechts dirigiert. Ich exzerpiere im hohen Tempo. So viel Material, so wenig Zeit. Höchste Konzentration. Dies ist der Lohn der Arbeit und ich streiche ihn freudig ein.