Sabina Berman, Mexiko, zum Welttheatertag am 27.03.18

Werewere Liking (Elfenbeinküste), Maya Zbib (Libanon), Ram Gopal Bajaj (Indien), Simon McBurney (Großbritannien) und Sabina Berman (Mexiko) sind die Botschafter*innen, die das ITI 2018 zum Welttheatertag am 27. März ausgewählt hat. Die fünf Autor*innen kommen aus fünf globalen Kulturregionen. Damit unterstreicht der ITI-Weltverband aus Anlass seines 70jährigen Bestehens in besonderer Weise die Vielfalt wie auch den Kulturen übergreifenden und verbindenden Charakter von Theater.

Stellen wir uns vor:
Ein Stamm jagt Vögel, er bewirft sie mit kleinen Steinchen. Da taucht ein riesiges Mammut auf und BRÜLLT, zugleich BRÜLLT ein kleines Menschlein genau wie das Mammut. Dann rennen alle …
Jenes Mammutgebrüll, hervorgestoßen von einer Frau – ich stelle mir vor, es handelt sich um eine Frau – ist der Beginn dessen, was unsere Spezies ausmacht. Eine Spezies die dazu fähig ist, etwas nachzuahmen, was sie NICHT ist. Eine Spezies befähigt zur Darstellung des Anderen.
Überspringen wir zehn, hundert oder tausend Jahre. Der Stamm hat gelernt, andere Wesen nachzuahmen und in der Tiefe einer Höhle, im flackernden Licht des Lagerfeuers die morgendliche Jagd darzustellen. Vier Männer sind das Mammut, drei Frauen sind der Fluss, Männer und Frauen sind Vögel, Bäume, Wolken. So fängt der Stamm mit der Gabe des Theaterspielens die Vergangenheit ein. Und, noch erstaunlicher: So erfindet der Stamm eine mögliche Zukunft; er entwirft verschiedene Möglichkeiten, den Feind des Stammes, das Mammut, zu besiegen.
Aus Brüllen, Pfeifen, Murmeln – den Lautmalereien dieser Urform des Theaters – wird verbale Sprache. Aus gesprochener wird geschriebene Sprache. Auf einem anderen Weg wird Theater zum Ritual und dann zum Kino. In den Samenkörnern jeder dieser Formen steckt immer noch das Theater. Es ist die einfachste, die lebendigste Form der Darstellung. Je einfacher, je intimer Theater ist, desto mehr ist es verknüpft mit der erstaunlichsten menschlichen Begabung: der Fähigkeit den Anderen darzustellen.
Heute feiern wir in allen Theatern der Welt die ruhmreiche menschliche Fähigkeit des Theaterspielens: die Darstellung und Erfassung unserer Vergangenheit, um diese zu verstehen – oder auch das Erfinden einer möglichen Zukunft für den Stamm, um freier, um glücklicher zu werden.
Ich spreche selbstverständlich von Theaterstücken, die wirklich wichtig sind und über reine Unterhaltung hinausgehen. Diese wichtigen Theaterstücke habe heute dasselbe Ziel wie ihre ältesten Vorläufer: mittels der Gabe der Darstellung die zeitgenössischen Feinde des Stammesglückes zu besiegen.
Welche Mammuts muss das Theater des Stammes heute besiegen?
Ich behaupte, das größte Mammut ist die Entfremdung der menschlichen Herzen. Der Verlust unserer Fähigkeit, mit den Anderen zu fühlen: Mitleid zu empfinden. Und unsere Unfähigkeit mit dem nichtmenschlichen Anderen zu fühlen: der Natur.
Was für ein Paradox. Heute, am äußersten Ende des Humanismus angelangt – im Zeitalter des Anthropozän, dem Zeitalter, in dem das Menschliche die natürliche Kraft ist, die den Planeten am stärksten umgestaltet hat und dies noch immer tut – ist die Sendung des Theaters das genaue Gegenteil dessen, was den Stamm in der Tiefe der Höhle ursprünglich zusammenbrachte: heute müssen wir unsere Verbindung mit der Natur retten.
Mehr als die Literatur, mehr als der Film ist das Theater – das die Gegenwart von Menschen vor anderen Menschen verlangt – wunderbar für die Aufgabe geeignet, uns davor zu bewahren, zu Algorithmen zu werden. Zu reinen Abstraktionen.
Nehmen wir dem Theater alles Überflüssige weg. Ziehen wir es nackt aus. Denn je einfacher das Theater ist, desto eher ist es imstande uns an das einzige Unleugbare zu erinnern: wir sind, während wir in der Zeit sind, wir sind, während wir aus Fleisch und Blut sind, während wir ein Herz haben, das in unserer Brust schlägt. Wir sind hier und jetzt, nur hier und jetzt.
Es lebe das Theater. Die älteste Kunst. Die gegenwärtigste Kunst. Die erstaunlichste Kunst. Es lebe das Theater.

Aus dem Spanischen von Dieter Welke

Biografie

Sabina Berman, geboren in Mexico City, ist Schriftstellerin und Journalistin, sie wird als Mexikos kritischste aber auch erfolgreichste Autorin bezeichnet, sie gehört zu den produktivsten unter den zeitgenössischen Autoren spanischer Sprache.
Noch vor ihrer Geburt flohen ihre Eltern vor der Verfolgung jüdischer Mitbürger in ihrem Heimatland Polen nach Mexiko, wo Sabina zusammen mit zwei Brüdern und einer Schwester aufwuchs – durchaus im Bewusstsein, welche Belastung das Exil für die materielle Verfasstheit ihrer Familie bedeutete. Ein ganz entscheidender Faktor auch für ihr späteres Leben, wie sie glaubt.
Ihre Arbeiten als Schriftstellerin kreisen hauptsächlich um Fragen der Diversität und die Widerstände, die sich ihr in den Weg stellen. Ihr Stil ist von Humor gekennzeichnet und dem Bedürfnis, über sprachliche Grenzen hinauszugehen. Viermal hat sie den „Premio Nacional de Dramaturgia Juan Ruiz Alarcón“, den nationalen Autorenpreis Mexikos, gewonnen und zweimal wurde sie mit dem nationalen Journalistenpreis „Premio Nacional de Periodismo“ ausgezeichnet. Ihre Stücke werden in Kanada, USA, Lateinamerika und Europa aufgeführt. Ihr Roman „La mujer que buceó dentro del corazón del mundo (Die Frau, die ins Innerste der Welt tauchte) wurde in elf Sprachen übersetzt und in über 33 Ländern veröffentlicht, unter anderem in Spanien, Frankreich, den USA, Großbritannien, Israel und Deutschland.
Zurzeit arbeitet sie für Film und Fernsehen
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